Videokonferenzen – gegen den Strich
Die zentralistischen Mittel der Video-Plattformen nicht zu nutzen, sondern in Freiräume für Lernende umzudenken – das ist die große Herausforderung.
Drei Tage, nachdem die Schulen im letzten Frühjahr in den Lockdown gingen, hatten wir unsere erste Beratung mit einem Schulteam per Videokonferenz. Das war für uns alle Neuland. Schon vorher gab es im Berufsalltag unserer Institutsmitglieder dann und wann eine Videokonferenz, zum Beispiel bei solchen Distanzen, dass man sich ohne lange Anreise nicht live hätte sehen können. Besser als gar kein Treffen…aber gefühlt schwerfällig – Freude kam dabei kaum auf.
Wir waren gezwungen uns wie viele Institutionen (auch viele Schulen) sehr schnell für eine Plattform zu entscheiden und uns in und mit ihr einzurichten. Die neue Kulturtechnik Videokonferenz musste man erst einmal probieren, dann begreifen, dann gezielt einsetzen und sich die Möglichkeiten Stück für Stück erschließen. Rasch zeigte sich, dass sie durchaus neue Chancen für kleine Gruppen bietet. Unabhängig davon, wo sich die einzelnen Personen gerade befinden, kann man sich treffen! Ein Team muss sich nur auf Zeitfenster verständigen, ohne stundenlange Wegezeiten oder Anreisen einzukalkulieren. Der eigentliche Vorteil ist nun aber, dass sich ein langes Präsenz-Treffen durch mehrere kurze, digitale Treffen ersetzen lässt. Bei der Arbeit an gemeinsamen Projekten erhöht das die Chance, partizipativ zu handeln. Ein kooperativer Schaffensprozess lässt sich so einfacher sequentialisieren. Alle Beteiligten können wechselseitig über die Fortschritte im Arbeitsstand informieren, Probleme bei Bedarf im Team erörtern, gemeinsam Weichen für die Weiterarbeit stellen und dem, der den nächsten Arbeitsschritt umsetzt, Rückenwind verleihen. Mit den kollaborativen Möglichkeiten steigt die Produktivität unseres Instituts. Wir fühlen uns auch stärker, weil, trotz der physischen Distanz, die gefühlte Nähe zunimmt. Aber: wir sind auch an die Grenzen der Distanzkonferenzen gestoßen – das soll dieser Beitrag erläutern.
Rasch haben wir nicht nur Beratung in Team, sondern beratungsbezogene Fortbildungen mit größeren Gruppen organisiert. Digitale Inklusion war das Thema aller Schulen der Republik: Wie bauen wir die Barrieren ab, die sich zwischen Lernenden, Mitlernenden und Schule auftun, wenn digitale Werkzeuge der Kommunikation eingesetzt werden? Auch letztes Jahr gab es ja schon in fast allen Familien Handys und Laptops. Die im Homeoffice sitzenden Schüler*innen (und deren Eltern) konnten sich aber kaum vorstellen, diese Mittel für schulisches Lernen zu nutzen, und – bei Problemen – von sich aus die Schule oder die Mitschüler*innen anzufunken. Der Abbau der Technik-und Gedankenbarrieren zwischen Lernenden und Lernsystem erwies sich als typische Inklusions-Herausforderung: Mit denselben Mitteln zu lösen wie engagierte Schulen alle Inklusionsprobleme angehen.
Hier zeigte sich, dass sowohl das von vielen gewählte Zoom als auch schulnahe digitale Video- und Lernplattformen pädagogisch rückschrittlich aufgebaut sind. Sie konzentrieren die Moderationsrolle in absolut traditioneller Weise bei der Lehrperson. Sie kann jederzeit – völlig willkürlich – alle anderen stummschalten, also mundtot setzen, und als einzige weiterquasseln. Mit einem Klick kann sie einen als störend wahrgenommenen Lernenden aus der Lerngruppe entfernen, also „vor die Tür setzen“. Das sind verführerische Einladungen zu autoritärem Lehrerhandeln, dem die Lerngruppen nur ausweichen könnten, indem alle anderen auch gehen. In der wirklichen Schule ist das nicht so einfach! Im digitalen Lernraum kann die Lehrperson die Schüler*innen aber knallhart kaltstellen. Klar, das „tut man nicht“, es kam aber in der Lockdownzeit oft und unreflektiert vor. Jede Lehrkraft muss sich also selbst dazu erziehen, diese Zoom-Option nicht zu nutzen.
Überhaupt ist die Verbindung von technischer Moderation und Verantwortung für das Sozialgeschehen für viele Lehrpersonen eine Herausforderung. Wie gut ist es, wenn die Zoomkonferenz schon 15 Minuten vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn offensteht und die Schüler*innen sich dort zum Smalltalk treffen können! Dann hat, wenn die Lektion beginnt, jeder wenigstens schon mal etwas gesagt. Das integriert, verlangt aber, dass sich die Lehrperson zurückzieht – denn sonst bleibt den Lernenden nicht der personale Raum des digitalen Schulhofs. Die zentralistischen Mittel der Plattform nicht zu nutzen, sondern in Freiräume für Lernende umzudenken – das ist die große Herausforderung.
Das mag nach der Rückkehr der Lernenden in die Klassenräume nach Vergangenheit klingen, ist es aber nicht. Denn der große Vorteil des Digitalsystems ist ja gerade das Sprengen der Begrenztheit des Klassenzimmers. Zu lernen, wie man digital in großen Gruppen zusammenarbeitet, ist eine Zukunfts-Herausforderung. Dabei müssen wir alle lernen, Videoplattformen und alle digitalen Lernwerkzeuge „gegen den Strich zu bürsten“, sie also so einzusetzen, dass die lehrerzentrierte Technik in schülerzentriertes Lernen überführt wird.
Ein schönes Beispiel dafür konnten wir gerade in der Kooperation mit anderen Fortbildungsträgern erleben, mit denen wir den Change School Summit umsetzen. Dieses Jahr wird die Ende September stattfindende zweite Auflage dieses Bildungskongresses durch vorgelagerte Videokonferenzen für die teilnehmenden Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte ergänzt (siehe https://www.part-o.de/themen-und-aufgaben/zukunftswerkstatt-bildung-lernen/change-school-pre-summit-online-workshops-2021/). Bei den beiden ersten Zoomkonferenzen sind uns die Schüler*innen „abhandengekommen“ – das führte zu berechtigter Kritik aus dem Teilnehmerkreis. Wie konnte das nur passieren? Für uns als Veranstaltende ist nämlich die gute Einbindung der Schülerschaft in die Struktur des Bildungskongresses ein Herzensanliegen. Die Erklärung ist einfach: Wenn man ein Dokument einblendet, an dem die Online-Diskussion andockt, sind nur noch wenige Personen im Bild zu sehen. Zoom setzt stets diejenigen nach vorne, die sprechen. Wenn Jugendliche und Erwachsene gemeinsam diskutieren, dominieren oft redegewandte Erwachsene das Geschehen. Deswegen achten wir in er Moderationsrolle besonders auf die etwas stilleren Gesprächsteilnehmenden, das sind oft die Jugendlichen. Aber bei Zoom sieht die Person, die moderiert, nicht alle, sondern nur die, die das System nach vorne setzt. Also hatten wir beim Moderieren die Schüler*innen in den gemischten Diskussionen in doppelter Bedeutung nicht mehr auf dem Schirm!
Problem erkannt, Problem gebannt: Beim dritten Digitalworkshop haben wir mit einem Trick gearbeitet. Zu Gesprächsbeginn haben wir alle Teilnehmenden stumm geschaltet und alle Schüler*innen gebeten, sich einmal kurz zu melden. Dann sind ganz viele von ihnen auf dem Bildschirm präsent. Wir planen, wenn nur noch eine Schülerin oder ein Schüler zu sehen ist, diese Gruppe zur Beteiligung aufzufordern. Meist ist das aber gar nicht nötig, weil sich, wenn nur noch ein Schüler oder eine Schülerin zu sehen ist, die anderen von sich aus zu Wort melden!
Zoom gegen den Strich bürsten – wir sind dabei, es zu lernen!