Mind the gap
Jetzt aufpassen, dass nichts verloren geht!
“Mind the gap between platform and train!“ Wer kennt sie nicht, die Automatenstimme der Londoner U-Bahn, inzwischen in vielen Sprachen kopiert, Weckruf für jeden, der sich um Inklusion bemüht? Daran denke ich unwillkürlich, wenn ich Schulen pädagogisch berate, die sehnsüchtig darauf warten, dass Schüler*innen wieder ins Schulhaus strömen. Wo wir beraten, klappt das digitale Lernen auf Distanz inzwischen ganz gut. Zunehmend überwinden die Lernenden im Homeschooling erst die technischen (zu Datenschutz und digitalem Lernen der aktuelle ZEIT-Artikel), dann die mentalen Barrieren und kommen mittels der digitalen Werkzeuge der Kommunikation in Kontakt – mit ihren Peers beim Lernen und mit ihren Lehrpersonen.
Nun erfahren unsere Schulen, dass Digitalität beim Gestalten von Lernen nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile hat.
Beratungsgegenstand ist nicht mehr: „Wie bekommen wir die Lernenden dazu, ihre digitalen Werkzeuge zu aktivieren?“ Die Frage ist vielmehr: „Welche digitalen Mittel wollen wir weiterhin einsetzen und wie machen wir das?“ Monatelange Investitionen in die Erschließung des Potentials der Werkzeuge sollen sich ja auch langfristig lohnen!
Keine Sorge: Möglichkeiten gibt es zu Hauf. Digitale Arbeitsmittel können immer dann weiter eingesetzt werden, wenn ihre Nutzung einen Mehrwert für die Lernprozesse in den Lerngruppen verspricht. Solche Chancen gibt es viele. Jetzt sind unsere Schulen reif, die Möglichkeiten zu kultivieren.
In der Übergangszeit aber lauert der erwähnte Graben. Vor die vollständige Rückkehr der Lerngruppen ins Schulhaus setzt der Virus für viele Klassen die Phase des Wechselunterrichts. Je nachdem, wie Schulen diese Zeit gestalten, wird es miss– oder gelingen, die Gewinne der derzeitigen Digitalerziehung unserer Schüler*innen einzufahren. Der Wechselunterricht könnte zum Graben zwischen dem Distanzlernen und dem Präsenzlernen werden, in dem die bisherigen Erfolge verloren gehen.
Entscheidend ist, wie Schulen den Wechselunterricht umsetzen. Die Problematik haben wir schon im Frühjahr hier im Blog behandelt. Trotzdem stoßen wir nach wie vor auf dysfunktionale Lösungen der Aufteil-Frage: Lerngruppen werden halbiert, die eine Hälfte wird im Schulhaus im Präsenzunterricht betreut und die andere Hälfte bleibt zuhause. Das ist das schlechtestmögliche Modell – warum, erklären wir gleich.
Aber erst mal hier die Alternative: Man poolt zwei im Schulhaus nebeneinander angesiedelte Lerngruppen 1 und 2 und teilt beide in eine A- und eine B-Gruppe. An dem einen Tag (bei tageweisem Wechsel) kommt die Gruppe A und B der Lerngruppe 1 und verteilt sich in beide benachbarten Räume; die Klasse 2 bleibt zu Hause und wird dort digital betreut. Am nächsten Tag bleibt Lerngruppe 1 zu Hause und Lerngruppe 2 verteilt sich auf die beiden Räume. Der Unterricht verläuft nach Plan. Alle Lerngruppenmitglieder bleiben auf demselben Stand; der Zusammenhalt der Klasse bleibt gewährleistet. Die Lehrperson wechselt im Präsenzlernen zwischen beiden Gruppen und kann beim Distanzlernen die ganze Gruppe digital betreuen. So ist sowohl in der Schule als auch zu Hause eine gute Betreuung gewährleistet.
Schlecht ist dagegen, wenn Teil A einer Klasse im Schulhaus ist und Teil B zu Hause und am nächsten Tag ist es umgekehrt. Denn: Mangels perfekter digitaler Ausstattung der Unterrichtsräume kann eine Lehrkraft nicht gleichzeitig eine Hälfte der Lerngruppe im Klassenraum und die andere Hälfte mittels digitalem Werkzeug zu Hause betreuen. Wer das mal versucht hat, weiß, dass die Schülerinnen und Schüler zu Hause dabei den Kürzeren ziehen. Selbst wenn sie es versuchen, so haben sie kaum eine Chance, Kontakt zu den Mitlernenden in der Schule und auch nicht zu ihrer Lehrperson zu bekommen.
Es ist zwar auch eine Herausforderung, zwei halbe Lerngruppen in zwei Klassenräumen gleichzeitig zu betreuen – das stellen wir nicht in Abrede. Aber das kann eine kompetente Lehrkraft schaffen und dabei gleichzeitig noch kooperative Lernformen anbieten. Gerade kooperatives Lernen zeichnet sich ja dadurch aus, dass in der lernenden Untergruppe die Lehrperson nur zeitweise anwesend ist. So etwas kann, mit etwas pädagogischer Phantasie, auch in zwei nebeneinander liegenden Klassenräumen stattfinden. Wenn dabei dann gleich auch noch die digitale Technik zum Kontakthalten zwischen den beiden Klassen genutzt wird – auch die Mauer zwischen den Räumen sorgt ja schon für Distanz – so hat die Lehrperson die Chance, bei Problemen mit der Werkzeugnutzung individuell und personal digitale Schulung zu vermitteln.
So lässt sich zielführend arbeiten. Auch in der Grundschule. Halbe Lerngruppen in ganzen Klassenräumen kann man auch mal zeitweise alleine arbeiten lassen. Die Lehrperson ist ja anwesend, die Schüler*innen fühlen sich beaufsichtigt und betreut. Wenn es eine Doppelbesetzung gibt, so pendeln beide Lehrpersonen hin und her – die Stammlehrkraft bleibt für die ganze Klasse verantwortlich!
Was passiert, wenn eine Schule diese Regel nicht beherzigt – wie eine von uns beratene Grundschule, bei der es noch nicht einmal WLAN in den Klassenräumen gibt? Die Folge wäre, dass die Lernenden zu Hause wieder in das Betreuungsloch fallen, in dem sie zu Beginn des Lockdowns waren. Sie würden das Know-How für die Nutzung der digitalen Werkzeuge wieder verlernen, das die Schule inzwischen mühsam aufgebaut hat. Das Vertrauen in die Nützlichkeit der Werkzeuge würde erschüttert. Die Integration der digitalen Hilfsmittel in das regelhafte Lernen der künftigen Schul-Normalität würde gefährdet.
Das muss nicht sein. Jede Schule hat es in der Hand, die Digitalisierung in der Periode zwischen Distanzlernen und Präsenzlernen zu stärken. Das ist eine Frage einer der Pädagogik folgenden Organisationsstruktur. Darüber entscheidet jede Schule selbst! Mind the gap!