Back to School
Ein Beratungsgespräch zur aktuellen Situation
Jetzt kehren die Schüler*innen in Deutschland wieder in den Präsenzunterricht zurück. Die meisten Lerngruppen in unserm Land sind seit Monaten auseinandergerissen – weil ihre Schulen den Wechselunterricht unpädagogisch organisiert haben. Nur wenige Schulleiter*innen ahnen, welche pädagogische Herausforderung auf die Schulen zukommt, dieses Problem zu heilen.
Bei unserer Beraterin schellt das Telefon um 7.45 Uhr. Eine Schulleiterin einer Grundschule meldet sich: „Von einem Kollegen habe ich Ihre Rufnummer. Haben Sie ein wenig Zeit für mich? Ich bin ziemlich am Ende und brauche dringend Rat.“ Es geht um die Problematik der Rückkehr in den Präsenzunterricht. Die Schulleiterin fürchtet einen Rückfall der Schule in alte pädagogische Muster. Sie sieht die pädagogische Entwicklungsarbeit der letzten Jahre in Gefahr. „Das Problem brennt tatsächlich, denn nächsten Montag wird es ja wieder Ernst bei Ihnen. Ich richte einen Videochat ein. Bis 9.30 Uhr haben wir Zeit“, sagt die Beraterin.
Im Videocall zeigt sich: Die Schulleiterin hat während der Distanzzeit ihre gefühlte Verbindung zum Kollegium weitgehend verloren. Digital kursieren kritische Äußerungen, stehen im Raum und sind nicht bearbeitet. Das Kollegium ist verunsichert, wie es die anstehende Rekonstruktion der sozialen Lernstruktur in den Klassen bewältigen soll. Der Chefin wird gleichzeitig Führungsschwäche und fehlendes partizipatives Agieren vorgeworfen. Was ist zu tun?
Vor vier Jahren hat die Grundschule probehalber jahrgangsübergreifendes Lernen (JüL) als Jahrgangsmischung 1./2. und 3./4. eingeführt. Die Entscheidung war nicht die Folge pädagogischer Reform-Überzeugungen, sondern Not-Mittel, die Schließung der Schule abzuwenden. Wegen rückläufiger Anmeldezahlen hätte sich sonst nicht die Zweizügigkeit und damit die Existenz der Schule sichern lassen. Also beschloss die Schule folgerichtig, nach vier Jahren zu evaluieren, ob das jahrgangsübergreifende Lernen auf Dauer beibehalten werden soll. Die Zeit ist jetzt herum.
„Sie fragen sich also, ob es schlau ist, jetzt, nach drei Schulhalbjahren Coronakrise, das Gelingen von JüL zu evaluieren?“ „Ja, da liegt das Problem. In fast allen Klassen haben die Kolleg*innen beim Distanzlernen die Klassen nach Jahrgangsgruppen aufgeteilt. JüL hat dabei nicht mehr stattgefunden.“ Die bei dieser Lernform durch kooperatives Arbeiten erzielbaren Gewinne haben die Lehrkräfte der Schule seit über einem Jahr nicht mehr erlangt. Nicht nur die Schüler*innen sind total aus der spezifischen Lernform der Schule gefallen und in klassischen lehrerzentrierten Lernformen beschult worden, auch die Kolleg*innen, die vor dem Lockdown nur teilweise vom Sinn von JüL überzeugt waren, haben wieder verlernt, wie man das macht. Die Angst der Schulleiterin vor dem Rückfall der Schule in die pädagogische Vorzeit ist berechtigt. Aufgrund des verlorenen guten Kontakts zum Kollegium ist sie tief verunsichert.
Die 90 Minuten Akutberatung sind also absolut wichtig. Am Ende des Gesprächs sollte die Schulleiterin sich wieder in der Lage fühlen, den „Hut aufzusetzen“ und ihre Schule selbstbewusst durch diese Krise zu führen. Eine kompetente Beratungsperson bekommt das hin – das ist ja die Dienstleistung unseres Instituts für pädagogische Beratung. Unsre Beraterin folgt einer Strategie:
Im Zentrum steht zuerst die ratsuchende Person. Ihre Einschätzung ist richtig: Im Moment kann JüL nicht evaluiert werden. Denn in den letzten 18 Monaten ist die geplante Erprobung nicht durchgeführt worden. Also ist es korrekt, dass die Leiterin ihrer Schule verordnet, im nächsten Schuljahr die Erprobung weiterzuführen. Damit handelt sie verantwortlich gegenüber ihrem System, sorgt für die sinnvolle Umsetzung von Beschlüssen und zeigt aktive Leitungspräsenz. Das ist nicht etwa anti-partizipatives – wenn sie ihre Entscheidung begründet – sondern rollengerechtes Handeln. So fängt sie die geäußerte diffuse Kritik an ihrer Person auf.
Als zweites nimmt das Beratungsgespräch das lernende Kollegium in den Blick: Das Kriterium für den Abschluss der Erprobungsperiode ist formal, aber nicht inhaltlich bestimmt. Hier sollte jetzt nachgebessert werden. JüL gilt als von führenden Pädagog*innen empfohlenes Lernkonzept. Sein Wert liegt weniger im Zugewinn an kognitiver Lerneffizienz gegenüber dem Jahrgangsunterricht, sondern in den sozialen Effekten, die Lernprozesse positiv anregen. Folglich sollte die Erprobung so lange laufen, bis der kognitive Lerneffekt ebenso so hoch ist wie beim früheren Abteilungsunterricht. Erst wenn die Lehrkräfte mit JüL genauso erfolgreich arbeiten können wie im Unterricht in Jahrgangsklassen, ist der Zeitpunkt für die Schule gekommen, zu evaluieren, ob die Gesamteffekte von JüL sich positiv darstellen oder ob die Schule zum alten System zurückkehrt.
Das Kriterium für den Abschluss der Erprobung sollte die Schulleiterin jetzt ihrem Kollegium vermitteln. Dabei hat sie, wie sich zeigt, ein gutes Argument: Seit Einführung von JüL haben sich die Anmeldezahlen deutlich verbessert, so dass die Existenzgefahr für die Schule gebannt ist. Offensichtlich vertraut die Elternschaft der JüL-Schule mehr als dem alten System. Also: Erprobung geordnet bis zur Erreichung des Abschlusskriteriums durchführen!
Als drittes wendet sich das Beratungsgespräch den lernenden Kindern zu. Sie kehren aus der Isolation zurück in ihre Klassen. In den 1./2. sind Kinder dabei, die ihre Lerngruppe als Ganzes fast noch gar nicht erlebt haben. Hier ist also die Back-to-School-Problematik doppelt heftig. Jetzt müssen sich in den restlichen Wochen bis zu den Sommerferien alle Klassen wieder als Einheit finden, um sich dann, gemäß JüL-Konzept als Gemeinschaft voneinander zu verabschieden. Das ist die pädagogische Baustelle der Schule in den wenigen Tagen, bis der Präsenzunterricht wieder einsetzt. Die Chefin sollte ihr Kollegium ermutigen diese Herausforderung konstruktiv zu gestalten.
Die Zeit ist herum, die Schulleiterin sagt zur Beraterin: „Sie haben mir geholfen. Ich fühle mich wieder kraftvoll. Heute Nachmittag lade ich die Steuergruppe zu einer digitalen Sitzung ein. Ich erläutere, wie ich vorgehen will. Wenn ich das so mache, werden sogar skeptischen die Kolleg*innen mitgehen. Eigentlich ist das Kollegium sehr engagiert, braucht aber auch Ansprache. Ich weiß jetzt wieder, wie ich sie zur Weiterarbeit ermutigen kann. Wir rufen das nächste Jahr zum JüL-Lernjahr aus. Und am Ende davon sind wir dann schon viel weiter! Danke!“