02 Feb

Kann die pädagogische Perspektive zu Erkenntnissen in der Politik beitragen?

Stärke zeigen?

Gerade ist unser Buch erschienen, in dem wir uns mit der Schädlichkeit des Pädagogischen Populismus auseinandersetzen. Wir argumentieren, dass Selbstreflexion unerlässlich für Professionalisierung ist. Populisten unterlaufen aber mit apodiktisch vereinfachenden Aussagen aus anderen Professionen diesen ständigen Prozess der Weiter-Professionalisierung (Zitat dazu aus dem Buch am Textende).

Darf sich jemand, der so argumentiert, als pädagogisch handelnde Person zu Fragen äußern, die ins Handlungsfeld der Politik gehören? Oder führen wir damit unsere Kritik an Populisten ad absurdum? Die Frage haben wir im Institut intensiv diskutiert. Falsch ist nicht, politische Probleme aus pädagogischem Blickwinkel zu reflektieren. Falsch wäre aber, naiv zu glaubten, damit Politikern das Handeln zu erleichtern oder ihnen gar Handlungsanweisungen geben zu können.

Einen Tatbestand von verschiedenen Seiten zu betrachten, kann nie schaden. Machen wir es als Gedankenexperiment doch mal und ohne irgendwem irgendetwas aufdrängen zu wollen: Politische Fragen so zu reflektieren, wie eine pädagogisch denkende Person es (vielleicht) machen würde. Pädagogik denkt ja entwicklungsorientiert, stellt also Fragen wie „Welche Impulse und Anregungen brauchen Subjekte, seien es Menschen oder Systeme, um sich im wechselseitigen Kontext zukunftsorientiert und nachhaltig entwickeln zu können?“

Gerade spitzt sich die Konfrontation zwischen der NATO und Russland in der Ukraine-Frage zu. Für Pädagog*innen eine Lage ähnlich der, die einer Schlägerei auf dem Schulhof vorhergehen mag. Ein Anlass, über Präventionsstrategien nachzudenken.

Russland betrachtet die Ukraine als ihren „Vorhof“. Es ist nachvollziehbar, dass die Frage, ob sich das Nachbarland dem gegnerischen Militärbündnis anschließt, die russische Regierung umtreibt. Um das anzuerkennen, muss man wahrhaft kein „Russland-Versteher“ sein, wie einigen politischen Akteuren in Deutschland vorgeworfen wird. Was würde wohl in den USA passieren, wenn Mexiko Anstalten machen würde, ein Militärbündnis mit China einzugehen? Würde die Regierung das Selbstbestimmungsrecht ihres südlichen Nachbarn respektieren?

Nach Auffassung des Westens entscheidet die Ukraine selbst, wem sie in militärischer Hinsicht vertraut und wem nicht. Russland offenbart in der Interpretation der NATO despotisches Denken, wenn es verlangt, der Ukraine dieses Recht zu verwehren. Das paternalistische Verhalten liefert der Ukraine Anlass, dem östlichen Nachbarn zu misstrauen – nach dem Annektieren der Krim absolut verständlich. Aus pädagogischer Sicht des Westens müsste Russland eher versuchen, das verspielte Vertrauen wiederzugewinnen. Dessen (Wieder-) Gewinnung, so dass sich die Ukraine nicht der NATO anschließt, wäre aus pädagogischer Sicht die Herausforderung für russisches Agieren, das am Ende den Konflikt entschärfen könnte.

Dem Pädagogen-Blick entgeht hier nicht: Russland gelingt es durch die Manöver, die westliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Säbelrasseln“ führt zur Wahrnehmung, zur Beachtung im Kommunikationssystem. Das verweist auf einen gravierenden Fehler des Wesens: Gespräche über eine europäische Sicherheitsarchitektur sollte der Westen unabhängig davon führen, ob und wo Russland Manöver durchführt. Gut möglich, dass es im Vorfeld des Konflikts an kommunikativem Engagement gefehlt hat. So gesehen, trüge der Westen Mitverantwortung für die aktuelle Krisensituation.      

Diese Überlegung ist keineswegs müßig. Sie offenbart – pädagogisch gesehen – Lernbedarf der europäischen Partner in der NATO. Der Weg zu einem „gewaltfreien Schulhof Europa“ führt über vertrauensbildende Verhandlungen und, darauf aufbauend, vertrauensbildende Maßnahmen, bis hin zu einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft. Das ist pädagogisch richtig, egal, ob Russland das auch so sieht oder nicht.

Dialog mit Russland? „Ja natürlich, aber nur aus einer Position der Stärke heraus führt er zum Ziel“, sagt Julia Friedrich – verkündet durch die taz (29.01.22, S. 15). Nur unter dieser Bedingung? Aus pädagogischer Sicht ist „Stärke“ eine problematische Kategorie entwicklungsfördernden Agierens. Wer mit „Stärke“ auf provokantes Verhalten antwortet, erhöht das Gewaltpotential im Raum – und wird mitverantwortlich, wenn es zu Eskalation kommt.

Pädagogisch beobachtende Profis raten nicht zu Stärke, sondern zu höchstmöglichster Transparenz: Offenlegen der eigenen Sichtweise in einer Form, die beiden Seiten hilft, das Agieren der jeweils anderen Seite zu verstehen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine gehört zu den Essentials, die hier vorzutragen sind. Politiker sollten erklären, wieso es westlichen Gesellschaften aufgrund ihrer inneren sozialen Struktur  den Weg wählt, auf eine militärische Provokation mit nichtmilitärischen Sanktionen zu reagieren. Im Vorhinein zu bestimmen, welche Maßnahme unter welchen Bedingungen umgesetzt werden kann, würde die demokratische Kultur sprengen – das bringt Demokratie an ihre Grenze. „Stärke zeigen“ würde Schwäche produzieren. Welche Maßnahme auf welche Provokation folgt, kann eine Demokratie nur bestimmen, wenn der Ernstfall da ist. Freiheitliche Gesellschaften sind so gestrickt. Wer daraus ableitet, im Ernstfall erfolge keine Reaktion, braucht mehr Informationen über demokratische Strukturen.

Welche Anregungen gibt also die Pädagogik in diesem Konflikt? Transparenz statt Stärke praktizieren! „Verstehen fördern“ – in dem Sinne, dass beide Seiten wissen, wie die jeweils andere Seite agiert und in politische Prozesse eingebunden ist. Gewalt auf lange Sicht ist für alle Beteiligten entschieden gefährlicher als gemeinsam gefundene Lösungen. Partizipative Gesellschaften sind schlecht im Vorbereiten von Krieg. Also müssen sie dialogisch arbeiten – und das möglichst nicht erst im aufgeschaukelten Konflikt.

Im Ukraine-Konflikt liegt die Pflicht zum Handeln bei der Politik. Wir schauen auf politisches Handeln mit pädagogischem Blick. Populistisch ist das schon deswegen nicht, weil wir keine Lösungen, sondern Aspekte zu einer weiteren Art, über den Konflikt nachzudenken, anbieten, mehr nicht.

Und da wir nicht Marineadmiral, sondern ein Institut für pädagogische Beratung sind, halten wir das für möglich und legitim. Was denken Sie?

Zitat aus Pädagogischer Populismus:„ … der Selbstzweifel (ist) als Beobachterstandpunkt für reflektiertes Handeln, besonders im institutionalisierten Bereich, grundlegend für professionelle pädagogische Arbeit … . Wenn die Populisten nun dieses Handeln zu eindeutig zu beantwortenden Glaubensfragen erklären, entziehen sie den dort Tätigen die Grundlage zur ständig wachsamen Reflexion und damit ihrer Professionalität“ (S. 49f).

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