03 Nov

Nachgedacht: Welche Vorstellungen von Unterricht stehen hinter der „Demaskierung am Platz“?

In NRW dürfen am Platz sitzende Schüler*innen neuerdings die Maske abnehmen. Wahrscheinlich geht Ihnen das Masken-Themen genauso auf den Nerv wie uns. Leider fordern Virus und Schutzmaßnahmen bei steigenden Infektionszahlen Schulen aber weiterhin heraus. Pandemie-Bewältigung gehört zur pädagogischen Gegenwart. Allerdings demaskiert das WIE die pädagogische Haltung einer Schule. Anlass, das Maskenthema heute aufzugreifen ist ein Beitrag einer Regionalzeitung „Grundschul-Alltag in Corona-Zeiten – Gelassenheit in der 1c“ aus einer Landgemeinde im Münsterland.

Der Redakteur stellt eine lehrerzentrierte Sequenz aus dem Schreiblehrgang dar: Die Lehrkraft spricht 21 Erstklässler-Lernenden das Wort „Lampe“ vor, mehrfach, einmal besonders deutlich ohne Maske. Dann bemühen sich alle, das Wort in ihr Heft zu schreiben. Der Redakteur resümiert: Hier scheint die Pandemie den Unterricht kaum zu beinträchtigen. Wir meinen: Da hätte er genauer hinschauen dürfen!

Hintergrund des Beitrags ist, dass NRW seit November am Platz sitzenden Lernenden erlaubt, die Maske abzusetzen. Angesichts von Impf-Fortschritt und virenreduzierenden Lüftungssystemen erscheint das bei Studierenden in der Uni-Bibliothek oder beim individuellen Arbeiten in der Oberstufe vertretbar. Auch Grundschulkinder könnten auf die Maske verzichten, solange sie einzeln an ihrem Platz sitzen und genügend Abstand zu den übrigen Lernenden halten. Ist also hier beim Lampe-Schreiben alles o.k.? Tut das Schulministerium den Schüler*innen etwas Gutes, wenn es sie demaskiert?

Das Problem ist hier nicht Maske ja oder nein. Das Problem ist: So, wie es die Szene zeigt, sollte heutzutage kein Erstschreib-Unterricht mehr stattfinden. Gestandene Grundschul-Lehrkräfte verdrehen bei diesem Zeitungsbeitrag die Augen! Wörter-Schreiben-Lernen auf Vorrat? Alle machen die gleichen Handbewegungen zur gleichen Zeit? Auf Diktat der Lehrperson? Da melden sich doch größere Bedenken! Ist das ein Corona-Flashback oder gängige Praxis? Wer arbeitet so mit Kindern im Oktober 2021?

Die Kollegin ist jung. Ihre Ausbildung liegt noch nicht lange zurück. Sie hat also gelernt, wie man es heutzutage macht: Schreibanlässe stiften! Kinder motivieren, Sätze zu bilden, die sie schreiben wollen! Zum Schriftspracherwerb gibt es Lautierungstabellen, Selbstlern-Werkstätten, digitale Unterstützungsprogramme. Grundschulkinder lernen Schreiben heutzutage individualisiert, im eigenen Lerntempo, in Einzel- oder Partnerarbeit. Schule weckt Schreib-Motivation, erarbeitet mit den Kindern anspruchsvolle Ziele des Lernens und stiftet gemeinsames Handeln in Peer-Groups der Klasse! Dabei sitzen, stehen oder liegen sie da, wo sie es gerade wollen und wo es ihnen gut tut.

Distanzhalten ist dabei für Kinder eine weltfremde Forderung. Sie setzen sich von alleine an einen Einzelplatz, wenn sie Ruhe benötigen. Sie rücken eng aufeinander, wenn sie in Gruppen arbeiten, wenn das Lerngespräch spannend wird, wenn es interessant ist zu sehen, was die anderen gerade machen. Distanzhalten oder Maske tragen entspricht einfach nicht dem Unterrichtskonzept der Selbststätigkeit.

Grundschulkinder haben dabei mit dem Maske-Tragen in Räumen nicht so viel Probleme. Sie verstehen: Wenn man eng zusammenhockt, so fällt es dem Virus schwerer, von Mund zu Mund zu hüpfen, als wenn zwei Stoffschichten dazwischen sind, die zwar Sprache durchlassen, aber keine Spucketröpfchen. Das bestätigt auch der Redakteur des Beitrags. So eine Filtertüte im Gesicht mag beim Laufen und Spielen auf dem Schulhof stören – das geht ja schon seit längerem wieder ohne – aber kaum beim gemeinsamen Lernen an einer spannenden Matheaufgabe oder beim gemeinsamen Schreiben eines kleinen Textes.

Wenn die Lehrkraft nun unter Corona-Bedingungen so mit den Kindern arbeitet, scheint sie uns ein Opfer der Krise zu sein. Sie wirft offenbar über Bord, was sie über erfolgreiches Unterrichten in der Grundschule gelernt hat. Das ist nicht nur ihr individuelles Problem, sondern das der gesamten Grundschule. Lehrkräfte hatten Zeit sich Strategien zu erarbeiten, zeitgemäße Pädagogik auch unter Corona-Bedingungen umzusetzen. Hier werden nicht Grundschulkinder demaskiert, sondern eine Praxis in einer Schule im ländlichen Raum.

Klar, was so eine Schule an widrigen Umständen stemmen muss, ist nicht wenig: Personalmangel, Läuse, Eltern-Scheidungen, Lockdowns, WLAN-Störung, Hochwasser, Schulzahnarzt, Müdigkeitsanfälle von Nachtschicht-Fernseh-Guckern. Solche Situationen fordern Kreativität, die gute Pädagogik der Schule auch unter solchen Bedingungen aufrecht zu halten.

Wie bei jeder Krise ist die neue Situation – eben – neu, ein Zurück zu früher ist nicht das Ziel und auch nicht die Lösung. In der Schule, über die die Regionalzeitung berichtet, scheint in dieser Hinsicht etwas schiefgelaufen zu sein – und zwar schon vor der Demaskierung der Lernenden am Sitzplatz durch das Schulministerium ab diesem Monat. Die Corona-Pandemie hat offenbar dort dazu geführt, dass überholte Lernformen fröhliche Urstände feiern konnten!

Das ruft nach Innehalten, nach Anspringen der inneren Schulentwicklung der Grundschule. Der Redakteur, vermutlich arglos einem alten Bild von Schule aufgesessen, demaskiert durch Beschreibung eine pädagogische Praxis und will doch nur über die Demaskierung von Kindern berichten. Uns Lehrkräften macht das Virus weiterhin das Leben schwer, trotzdem sollten wir die Qualität des pädagogischen Handelns immer wieder überdenken und die Unterrichtspraxis neuen Herausforderungen anpassen. Es ist wahrlich ein anspruchsvolles Geschäft, immer wieder aus der Not eine Tugend zu machen. Schulen sind gefordert, stets zu reflektieren: Wie schaffen wir es, unter den aktuell gegebenen Bedingungen unseren Kindern und Jugendlichen das bestmögliche Lernangebot zu machen?

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