17 Jul

Zentralabitur – Risiken und Nebenwirkungen eines Prüfungsformats


Die Kommissionen, die zentrale Aufgaben (z. B. in Mathematik) erstellen, brauchen Feedback durch die Schulen

Nun neigt sich das Schuljahr auch in den Ländern mit späten Ferienterminen dem Ende zu. Da trifft sich traditionell das Kollegium zum Feiern. Auch in diesem Ausnahmejahr werden diejenigen, die in den Ruhestand gehen oder versetzt werden, würdig verabschiedet. Dabei lecken sich die Lehrkräfte ihre Wunden und erörtern die Erfahrungen des gemeinsamen Schaffens. Freunde der Schule, so wie wir als regelmäßige Beratungspersonen, werden dazu gelegentlich eingeladen.

Gesamtschulen, Gymnasien und Berufsschulen erörtern auch in diesem Corona-Ausnahmejahr, wie die Schülerschaft mit den zentralen Prüfungen klargekommen ist. Mathematik ist dabei oft der Aufreger, auch in diesem Jahr.

Ein Kollege beklagt sich: In Mathe hatten mehrere Aufgaben Kontexte, die für die Schüler*innen nicht zu verstehen waren. Sehr problematisch, denn so etwas was kommt in keinem der wichtigen Schulbücher vor. Wenn man als Mathe-Lehrer den Kontext durchdrungen hat, ist die Aufgabe zwar mathematisch wenig anspruchsvoll, aber wie sollen Schüler*innen sie verstehen?

Zum Beispiel viele Lernende mit Sprachproblemen, vor allem mit Migrationshintergrund, seien massiv benachteiligt! Eine Zumutung, dass das Ministerium solche Aufgaben stelle, regt man sich weiter auf. Besonders perfide sei: Das Ministerium wünsche sogar eine Rückmeldung, wie die Abiturientia mit den Mathe-Aufgaben klargekommen sei!

Ein Grüppchen weiterer Mathelehrkräfte kommt dazu. Als Indikator für schwaches Abschneiden der Prüflinge gilt die Zahl der Abweichungsprüfungen bei denjenigen, deren schriftliche Abi-Prüfung signifikant von der Vornote abweicht. Abe bei Anlegung dieses Maßstabs hat die Schule sich im üblichen Rahmen bewegt. Auch ist die Durchschnittszensur in Mathe nicht auffällig schlechter als im letzten Jahr. „Wir lassen unsere Schüler doch bei so einer Prüfung nicht im Regen stehen – das würde das Vertrauen der Schülerschaft zu unserer Schule ja in Frage stellen.“ Nur über das wie kann man dem Ministerium nicht gut eine Rückmeldung geben. Also habe man sich dazu entschieden, auf das Feedback zu verzichten. Ein altes Problem – wenn die Schulen hier nicht Klartext reden, wird sich nichts ändern.

Das ist das Dilemma der zentralen Prüfungen. Ein moderner Matheunterricht ist anwendungsbezogen. Wer Mathematik treibt, projiziert abstrakte Denkfiguren auf Sachsituationen und zieht aus den dabei zu gewinnenden Erkenntnissen Schlüsse, die für das wirkliche Leben relevant sind. In diesem Corona-Jahr haben viele Mathe-Lernenden verstanden, welche Dramatik Wertefolgen haben, die exponentiell wachsen.

Lineares Wachstum liegt vor, wenn die Differenz zweiter benachbarter Werte entlang der Reihe konstant ist – das Wachstum ist deutlich sichtbar, erscheint aber bei Fortsetzung der Folge beherrschbar. Beim exponentiellen Wachstum benachbarter Werte ist aber der Quotient (der Wert des Bruchs) konstant. Das wirkt bei den ersten Werten harmlos und sprengt auf lange Sicht alle Grenzen. Dazu lässt sich spannender Mathe-Unterricht machen. Aber wie packt man solche Anwendung in Prüfungsaufgaben, die in allen Schulen des Landes eingesetzt werden sollen?

Abi-Aufgaben müssen außerdem gerecht sein. Schüler*innen sollten die Aufgabe nicht etwa schon vor der Prüfung kennen. Daher kommt es nicht in Frage, eine schöne anwendungsbezogene Aufgabe aus einem Lehrbuch zu nehmen, die in anderen Lehrbüchern nicht vorkommen. Sonst hätten die Schüler*innen der Schulen, die mit diesem Buch arbeiten, ja einen massiven Vorteil.

Die Kommissionen, die jedes Jahr neue Prüfungsaufgaben ersinnen müssen, sind also stets auf der Suche nach neuen Kontexten. Das fällt in das Feld der Fachdidaktik des Fachs, in das aber nur wenige Lehrkräfte eingebunden sind. Die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik hat z.B. einen Arbeitskreis Vernetzung, der sich zum Ziel gesetzt hat, Kontexte für das Lernen der Mathematik zu erschließen. Eigentlich ein lobenswertes Vorhaben.

Aus diesem Fundus bedienen sich die Kommissionen, die die Aufgaben formulieren. Auch die von den Kolleg*innen der Schule beim Jahresabschluss kritisierte Abi-Aufgabe lässt sich auf den Austausch mit dem Arbeitskreises Vernetzung zurückverfolgen. Man kann sich den Werdegang der Aufgabe vielleicht so vorstellen:

Eine*r formuliert einen ersten Entwurf zur Aufgabe und erläutert seinen Kommissionskolleg*innen die von ihm erwarteten mathematischen Argumente der Prüflinge. Die anderen sagen: „Viel zu schwierig, das versteht ja keiner. Die Aufgabe können wir so nicht stellen.“ Also setzen sich alle Kommissionsmitglieder – als Hausaufgabe – hin und formulieren die Aufgabe so um, dass sie leichter zu verstehen sein wird. Andererseits muss sie aber so präzise formuliert werden, dass genau die gewünschten Argumente als richtige Lösung gesetzt werden können. Es soll ja eine Prüfungsaufgabe werden. Dann setzt sich die Gruppe wieder zusammen und erarbeitet aus den Entwürfen eine Endfassung. Ausgekochte Experten für das Mathe-Zentral-Abitur können nun unschwer die darin steckende Mathematik erkennen. Da alle Kommissionsmitglieder zu dieser Spezies gehören – und sie sich nun schon mehrere Wochen mit dem Kontext der Aufgabe beschäftigt haben – kommen sie zur Einschätzung, die Aufgabe sei nun ausgereift – für sie ist nun klar, welche Kompetenzen die Aufgabe abprüft.

Als Aufgabe des Zentralabiturs unterliegt die Aufgabe selbstverständlich der Geheimhaltung. Andere Personen im Ministerium, die nun die Notbremse ziehen könnten, bekommen die Aufgabe gar nicht zu sehen. Expert*innen für Problemfelder, wie sprachsensibler Unterricht oder Matheunterricht mit Lernenden mit Migrationshintergrund, gibt es zwar in unseren gut aufgestellten Ministerien auch. Aber sie arbeiten an anderen Stellen und haben keinen Einfluss auf Abituraufgaben.

Was könnte also die hier erwähnte Schule tun, um der Kommission Feedback bezüglich der zentralen Aufgaben zu geben, ohne sich unnötig zu outen? Sie könnte ihre Rückmeldung listig abgeben und erklären: „Wir arbeiten nicht die Lehrbücher ab, sondern verfolgen, was die Fachdidaktik über anwendungsbezogenen Mathematikunterricht bietet. Also betrachten wir im Matheunterricht schon von Klasse 5 an Sachkontexte. Wir lehren keine Mathematik, sondern erziehen unsere Lernenden zum mathematischen Denken in vielfältigen Kontexten. Wie der Zufall es will, haben wir den Codierungskontext in diesem Abi-Jahrgang in einem Lernprojekt als Anlass für das Mathematisieren in vielfältigen Sachzusammenhängen eingesetzt. Daher konnten unsere Schüler*innen die – zugegeben recht triviale – Mathematik in diesem Kontext in der Prüfungsaufgabe einigermaßen erfolgreich lösen.“

Die Mathegruppe der Schule lacht als Reaktion auf diesen Vorschlag. „Dann müssen wir allerdings im nächsten Schuljahr dafür sorgen, dass wir wirklich so arbeiten, wenn wir das dem Ministerium wie vorgeschlagen „verkaufen“ wollen. Kann sein, dass die jemanden schicken, der gucken will, was bei uns da so großartig läuft. Eigentlich sollte es ja auch so sein. Also: Warum nicht? Sprechen wir doch mal mit der Schulleitung, ob wir so ein Feedback und gleichzeitig einen Startschuss für die Weiterentwicklung unseres Matheunterrichtes abgeben wollen.“

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