06 Jul

Vom individuellen Hämmern

Der Individualität gerecht werden

Die Englisch-Fachschaft einer Gesamtschule sitzt zusammen. Die Schulleitung will selbstständiges Arbeiten der Schüler*innen voranbringen. Sie hat ein Entwicklungsprojekt gestartet. Lerngruppen sollen in schriftlicher Form differenzierte Lernangebote erhalten. Ganze Unterrichtsreihen über mehrere Wochen sollen so ausgestaltet werden, dass die Kinder und Jugendlichen selbstverantwortlich navigieren können.

Sicher ist das eine gute Idee: Das Lernangebot der Schule wird schriftlich gefasst. Es wird so designt, dass es für alle Lernende des Jahrgangs taugt. Also muss es, gerade in einer Gesamtschule, vielfaltstauglich sein. Egal, ob hoch- oder tiefbegabt: Jedes Kind aller parallelen Klassen des Jahrgangs soll dort ein Lernangebot finden, das an seine Lernvoraussetzungen andockt. Eltern, Lehrkräfte der Nachbarschule und zum Beispiel die Bürgermeisterin der Stadt, in der die Gesamtschule steht, können nachlesen, wie in Klasse 7 der Gesamtschule gearbeitet wird. Qualität wird sichtbar – fehlende Qualität allerdings auch …

Deswegen tun sich die Lehrkräfte der Englisch-Fachschaft schwer. Daher hat die Schule unser Institut um Unterstützung gebeten. Unsere Beraterin sitzt dabei und hört sich die Diskussionen an. Es dauert nicht lang, und die Lehrkräfte wenden sich an sie: „Wie sollen wir das denn hinbekommen?“

Beratung gibt keine Tipps, sondern setzt an den Fragestellungen der Ratsuchenden an. Also fragt die Beraterin: „Was macht Ihnen dabei denn so große Schwierigkeiten?“ Die Frage ist echt. Englischunterricht an vielen Schulen ist Lehrbuch-Unterricht. Moderne Englisch-Lehrbücher sind kompetenzorientiert gestaltet; sie machen nicht nur Lernangebote, sondern vermitteln Zielsetzungen des Lernens. Das ist an dieser Schule auch nicht anders. Eigentlich braucht es gerade im Fach Englisch nur noch einer Rahmung, mit der die einzelne Schule den Bezug zwischen der Lernwelt des Buchs und den Kindern vor Ort herstellt.

„Wir stimmen doch den Unterricht individuell auf das einzelne Kind ab! Das kann man doch gar nicht in so einen Lernplan packen. Wo bleibt da denn die Individualität des Kindes?“ In dieser Einschätzung ist sich die Fachgruppe einig. Der Plan der Schule ist eine Vergewaltigung der Individualität der Lernenden. Und das soll eine qualitativ hochwertige Schule werden?

Die Beraterin lässt sich nicht beirren: „Bleiben wir doch erst mal bei uns selbst, bei Ihnen und Ihrer Fachgruppe. Haben Sie Probleme mit Ihrer Individualität, wenn sie mit den gleichen Lernplänen arbeiten sollen wie die anderen Englischlehrer in den Parallelklassen?“ Oh ja, das ist auch ein Problem: „Solche Lernpläne sind ein Angriff auf unsere Freiheit, den Unterricht zu gestalten. Die Freiheit der Lehrperson ist ein hohes Gut!“ Auch das ist unisono Meinung der Fachgruppe.

„Schaun wir mal,“ erwidert die Beraterin, „Das Problem ist lösbar. Es gibt – das wissen wir als Institut – viele Schulen, in denen die Lehrkräfte glücklich sind, mit gemeinsamen Lernmaterialien zu arbeiten. Wenn eine Schule das kann, entlastet das die Lehrkraft und es fördert die Lernenden.“ Aber, das alte Problem: Man muss es erst mal lernen, wie das geht, damit man sich vorstellen kann, welche Vorteile es hat.“

Die Beraterin bittet alle Teilnehmenden, einmal den Lerngegenstand einer idealen Unterrichtseinheit für den Start in Klasse 7 auf einen Zettel zu schreiben – ohne an das Lehrbuch zu denken, unter Voraussetzung idealer Lernbedingungen. Das tun die Lehrkräfte. Die Antworten lassen sich drei Typen zuordnen: Grammatikalischer Zugang zum Lernaufbau (If-clauses), sprachkompetenzbezogener Zugang zum Lernaufbau (Poetry-Slam) und kontextbezogener Zugang zum Lernaufbau (Liverpool – my dream city – compared with our town: Where would I like to live?).

„Das ist die Vielfalt, die es Ihnen schwer macht, mit den Kollegen zu kooperieren. Sie haben unterschiedliche Unterrichtskonzepte im Kopf. Wer sollte denn entscheiden, welches Ihre Schule verfolgt?“, meint die Beraterin.

Eine Kollegin meldet sich: „Der Wurm sollte dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Wir müssen das Konzept wählen, das den Schüler am besten anspricht!“ „Ein schönes Bild,“ sagt die Beraterin, „nur haben wir hier nicht nur einen Schüler – einen Fisch – sondern einen Schwarm von vielen Fischen bzw. Schüler*innen. Die Gruppe ist heterogen! Was tun Sie also?“

Der Älteste im Kreise, ein Kollege kurz vor dem Ruhestand, sagt: „Wir führen eine lange und erbitterte Debatte in der Fachschaft, wer Recht hat. Meistens setzen wir Alten uns durch. Aber das muss ja nicht so bleiben.“ Die Beraterin lächelt, dankt für den Beitrag und erwidert: „Sie können Vielfalt als Anlass für Streit nehmen. Oder aber zur Stärke machen. Jeder der drei Zugänge ist ja berechtigt. Für das eine Kind ist der eine Zugang und für das andere Kind der andere Zugang besser. Lassen sie also die Schüler*innen entscheiden. Kooperieren sie bei der Gestaltung der Lernpläne so, dass aller Lerner-Typen etwas finden, was zu ihnen passt. Da ist Ihre Heterogenität als Fachgruppe die ideale Quelle, ihr gemeinsames Lernwerkzeug auf die Heterogenität ihrer Schülerschaft abzustimmen“.

„Das ist ja der Hammer,“ sagt eine Kollegin. „Wir schaffen gemeinsam ein Werkzeug, das von allen Kindern gleich gut bedient werden kann? Haben Sie dafür auch einen guten Tipp, wie wir das hinbekommen?“

Ja, auch das hat die Beraterin. „Nicht der Hammer – das Werkzeug – sondern das Hämmern treibt das Metall. Das ist die systemische Weisheit für Hammer-Produzenten: Schauen Sie darauf, wie die Kundschaft mit dem Hammer arbeitet. Designen Sie den Hammer so, dass alle Profis, so verschieden sie auch sind, die daran mitwirken, denken, dass der Hammer gut in der Hand liegt. Den Hammer geben Sie dann der Kundschaft und beobachten sehr genau, wie die Kundschaft damit das Metall treibt. Am Ende finden Sie den perfekten Hammer für alle dabei heraus.“

„O.k.“, sagt der ältere Kollege, „das klingt gut. Dann woll‘n wir mal!“

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