Coronaleugner – Ergebnis verfehlter schulischer Bildung?
Harter Tobak: Heute denken wir darüber noch, ob es einen Zusammenhang zwischen schulischer Bildung und sozial-emotionalen Störungen gibt und wie ein Förderpädagoge die Politik beraten würde.
Letztes Wochenende meldete das RKI 22000 tägliche Neuinfektionen und die ARD 30000 Corona-Leugner in der Leipziger Innenstadt, ohne Abstand und Masken. Geht‘s noch? Demonstranten ohne Bewusstsein für soziale Verantwortung, rücksichtslos Infektionen verbreitend, das eigene Freiheits-Feeling verabsolutierend?
Aus Sicht des systemischen Pädagogen erfüllen Menschen, die so handeln, den Fördertatbestand Störung der sozial-emotionalen Entwicklung (ESE). Ihnen geht die Fähigkeit ab, das eigene Handeln in sozial verantwortlicher Weise so auf die Bedürfnisse anderer Menschen abzustimmen, dass das Wohlergehen aller bestmöglichst gefördert wird.
Vielleicht hat die Politik doch einen Fehler gemacht. Bewundernswert ist zwar die die Geduld der Kanzlerin, die Schutzmaßnahmen immer wieder, sehr gut verstehbar, erklärt. Doch die den Sommer über immer wieder geäußerte Versicherung der Politiker „Wir tun alles, damit es nicht wieder zu einem Lockdown kommt“, ist für Menschen mit ESE-Syndrom gleichbedeutend mit der Botschaft: „Ihr tut ja schon, dann brauchen wir nichts dafür zu tun.“
Ein Förderpädagoge würde daher ganz anders in der Öffentlichkeit argumentieren: „Ab 35 wöchentliche Neuinfektionen gerät die Lage außer Kontrolle. Dann müssen wir das soziale Leben rabiat herunterfahren. Tut alles dafür, dass dieser Zustand nicht eintritt! Denn die Folgen wären mega-ungerecht. Also ist jeder ein Lump, der nicht alles tut, was er tun kann, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.“
Wir, das IfpB, beraten nicht Politiker, sondern Menschen, die Bildungseinrichtungen gestalten. Unsere Frage ist zum Beispiel: Welchen Anteil hat die Schule von heute daran, dass Menschen sozial-emotionale Entwicklungsstörungen ausbilden? Dass sie einen selbstbezogenen emotionalen Tunnelblick bekommen? Dass sie nicht begreifen, dass es ihnen selbst am besten geht, wenn es allen zusammen gut geht? Dass Teilen im sozialen Kontext zu mehr Reichtum für alle führt?
Ja, solch verfehltes Denken wird von unseren Schulen vielfach gelehrt. Nicht mit Absicht – klar. Die Lippenbekenntnisse lauten anders. Aber eine Kernbaustelle ist die Leistungsbewertung: Wenn Zensurengebung innerhalb einer Lerngruppe das Gegeneinander fördert und nicht das Miteinander. Wenn Leistungsbewertung – eigentlich streng verboten – nicht kriterial, sondern entlang der sozialen Bezugsnorm durchgeführt wird, wenn die gute Leistung von Schüler A daran zu erkennen ist, dass Schüler B eine schlechte Leistung erbringt – dann produziert die Schule Störungen der sozial-emotionalen Entwicklung.
Für gelingendes Lernen ist eine solche Kultur ruinös. In Kooperation, durch Teilen von Kenntnissen, wächst das Können der Menschen viel effektiver als wenn die Lernpartner sich voneinander abschotten. Doch das Trennungsdenken ist noch immer in den Köpfen der Lehrpersonen verwurzelt. Das zeigt sich gerade mal wieder an den Diskussionen über Distanzlernen.
Angenommen, eine Schule führt ein digitales Kommunikationswerkzeug ein, um die raum-zeitliche Einschränkung des Lernens einer Klasse auf die Unterrichtsstunde und den Klassenraum endlich zu überwinden. Die Lerngruppe als sozial-emotionale Einheit existiert ja weiter, auch wenn gerade nicht Mathestunde in der 7b der Lustig-Schule in Posemuckel ist. Auch wenn die Kids zu Hause sitzen oder im Schulbus oder sonstwo – sie sind und bleiben Schüler*innen der Klasse 7b, und alle, die in der 7b sind, gehören dazu.
Also kann man das digitale Werkzeug doch zum universellen Austauschmedium machen. Jeder, der etwas für Mathe tut, ob zu Hause, in der Schule oder am Wochenende bei Oma – z.B. Aufgaben aus der Lernwerkstatt bearbeitet – stellt die Früchte seiner Arbeit direkt auf die Klassen-Plattform. Jeder, der auch an der Werkstatt arbeitet, kann sich, wenn er Bedarf hat, ansehen, was die anderen schon gemacht haben. Der Blick auf fremde Lösungen gibt Anregungen für das eigene Weiterdenken. Wenn Anna bei Pauline etwas liest, was ihr merkwürdig vorkommt, so funkt sie Pauline über Telefon oder Messenger (oder meinetwegen auch über WhatsApp) an und verwickelt sie in ein Gespräch. Beide lernen dabei viel mehr, als wenn Anna und Pauline nicht in Kontakt sind.
„Das geht ja gar nicht“, sagen Lehrkräfte, wenn sie solche Überlegungen hören. Es könnte ja sein, dass Anna bei Pauline einfach abschreibt. Und dann gibt sie, oh Schreck, womöglich die von Pauline abgeschriebene Lösung als eigene Lösung aus! Nein, das muss die Schule verhindern. Abgabe von Hausaufgaben digital auf der Plattform – o.k. Aber beim Lehrer, auf keinen Fall zur Einsicht der Mitlernenden. Bei der Arbeit muss es doch auch jeder alleine können!
Leute, für wie blöd haltet ihr die Kids von heute? Sie wissen selbst, dass sie für das wirkliche Leben Können erwerben müssen. Und sie wissen auch, dass gute Zensuren Türöffner für Lebenschancen sind. Wenn die Schule also lehrt, Probleme des Lebens mit mathematischen Mitteln zu lösen, so wird überprüft – so oder so – ob sie diese Kompetenz am Ende der Lernzeit aufgebaut haben.
Die Corona-Krise ist eine Herausforderung des mathematischen Denkens der Menschheit. So wie alle Probleme, deren innere Logik dem exponentiellen Wachstumsprinzip genügt. Was die anderen Menschen tun, ist bei dieser Problemklasse entscheidender als das, was ein einzelnes Subjekt tut, wenn es sich selbst verabsolutiert. In solchen Fällen erfordert die Problemlösung, sich selbst schlau und achtsam mit den anderen Handlungsträgern zu verbünden. Empathie ist dabei eine essenzielle Teilkompetenz. Alles, was emphatisches Handeln verhindert, ist kontraproduktiv.
Jetzt steht an, Bildungseinrichtungen wie unsere Schulen daraufhin zu durchforsten, wo noch ungünstige Umstände wirken und diese konstruktiv umzubauen. Damit nicht nur der Reproduktionsfaktor des Virus, sondern auch der Zahl der Menschen mit ESE-Problematik unter 1 sinkt. Tschüss Virus, Tschüss Corona-Leugner!