Pädagogischer Blick auf Spritpreis-Rabatt und 9-Euro-Ticket
Gerade ist Saure-Gurken-Zeit in der Schulpädagogik. Wir Beratenden des IfpB sind aber durchgehend aufmerksam. Pädagogik befasst sich mit den Elementen gelingender Entwicklung, also – laut BENNER – mit den Strategien von Personen, die so etwas anregen. Wie hierzulande Politik betrieben wird, ist ein prachtvolles Anschauungsfeld. Jede Politik hat immer auch etwas von Volkserziehung.
Unsere aktuelle Bundesregierung präsentiert sich in einer äußerst unüblichen Form als Koalition im parlamentarischen Raum. Alle sind gewohnt, dass sich eine Koalition als Bündnis von Gleichen darstellt. Die inneren Gegensätze, die verschiedene politische Parteien naturgegeben aufweisen, werden in den inneren Arbeitsprozess verlagert, sonst gilt die Koalition als schwach. Die Ampel zeigt sich erfrischend anders: Hier kultivieren Bündnispartner, insbesondere das Männer-Dreieck Scholz-Habeck-Lindner, ihre Individualität, gehen aber trotzdem wie Partner miteinander um. Das passt nicht ins übliche Schema und verunsichert viele, vor allem in Zeiten des Krieges!
Dieser aufregende Umgang mit Verschiedenheit prägt auch die politische Praxis: Die Ampel erlaubt sich, politische Maßnahmen zusammen zu bündeln, deren Gegensätzlichkeit selbst der letzte Depp nicht übersehen kann: Kaum zeichnet sich ab, dass die Feindseligkeiten in der Ukraine zu Verwerfungen der Energieversorgung führen, gibt es, als sozialpolitische Maßnahme getarnt, gleichzeitig für drei Monate einen Rabatt auf den Benzinpreis als auch einen Fast-Nulltarif für den ÖPNV. „Mehr Widerspruch ist kaum möglich“, denkt sich der/die Pädagogik-Treibende, „Wie werden wohl Erzieher und Zögling miteinander interagieren?“ Gerade ist Halbzeit des Versuchs.
Politische Erzieher-Zögling-Interaktionen in unserer Demokratie finden auf zwei Ebenen statt: Zunächst die der betroffenen Individuen einerseits, hier an Tankstellen und Bahnhöfen. Dann auch in den Medien, die die individuellen Reaktionen sammeln, bündeln, verstärken und vermarkten. Erfahrene Pädagogi*innen gucken erst einmal selbst, zunächst an den konkreten Schauplätzen des Geschehens. Im zweiten Schritt interessiert sie natürlich auch, was diejenigen schreiben, die davon leben, in den Medien Interpretationen der Welt zu liefern.
An Tankstellen blicken wir dabei vor allem in betrübte Gesichter: Die Preise fallen nicht wie erwartet! Sind hier Betrüger der Mineralöl-Wirtschaft am Werke? Sacken sie sich die dem Staat entgehenden Gelder selbst ein, statt sie den bedürftigen Kraftfahrer*innen zufließen zu lassen?
Auf den Bahnsteigen reiben sich die Menschen die Augen: So viele Leute wollen in meinen Zug? Das ist ja unglaublich! War das in der guten alten Zeit vor Corona auch so? Oder ist das jetzt noch heftiger, weil freie Fahrt für alle winkt? Menschen drängen in Doppelstockwagen, die unter anderen Bedingungen nicht an Bord wollten – weil sie sich zum ersten Mal eine Reise an das Ziel der Träume gönnen können? Weil sie mal testen wollen, ob der Zug eine Alternative zum Auto ist? Die Bahn setzt ihren vorhandenen Fuhrpark ein mit allem, was da rollen kann und gibt gutwillig die erste Klasse für alle frei. Es geht ganz leidlich. Aber: Am Samstag vor Pfingsten passiert, was alle Schwarzseher der Republik vorhergesagt haben. Ein paar Neulinge, die trotz Warnung ihr Rad dabeihaben, bleiben auf dem Bahnsteig zurück und machen lautes Geschrei!
Aus den Medien schallt es: „Was für eine bescheuerte Politik! Was für eine doofe Regierung!“ Hier sind sich Gewerkschaften, Verkehrsexperten, Umweltschützer und Ökonomen einig: Schlechter kann eine Regierung es wohl kaum machen!
Nur ein paar Leute vom IfpB sind unglücklich mit der Medienwelt: Wozu hebt unsere vierte Gewalt nicht lobend hervor, dass diese Maßnahmen einer schlauen Regierung im Einzelfall widersprüchlich sind? Dass aber das Erleben der Widersprüchlichkeit der raschen Transformation, die wir alle dringend brauchen, in befreiendem Maße Raum gibt? Es muss schnell gehen! Handeln ist gefragt. Niemand hat aber das Patentrezept für die Problemlösung. Deshalb macht man zwei Anläufe gleichzeitig, statt der Versuchung nachzugeben, Handeln durch ewige Debatten aufzuschieben. Die Ampel setzt um, was im täglichen Leben oft ein Gelingens-Rezept ist: Lernen wir einfach mal gemeinsam durch Versuch-und-Irrtum!
Wer Pädagogik treibt, stellt immer diese Wozu-Fragen. Dann sinnt er/sie nach über konstruktive Lösungen zu den Problemen, die sich zeigen. Dieser mediale Shitstorm von allen Seiten verhindert, dass aus den Erfahrungen, die das mit Auto versus Zug mobile Volk im CO2-Spar-Modus wirklich sammelt, eine konstruktive Zukunft abgeleitet wird! Denn: Einer wird dabei sicher verlieren, also schimpfen wir vorab am besten alle! Hier vielleicht der brave Umsteiger vom Auto, der bei seinem Bahn-Ersterlebnis am Pfingstsonntag feststellt, dass es nicht nur auf den Autobahnen durchs Ruhrgebiet, sondern auch auf den Bahnstrecken an die Ostsee zu Engpässen kommt. Die Logik wäre: Er wird abgeschreckt, verwirft den Zug als Alternative endgültig und folglich wird die Klimakatastrophe unausweichlich!
Wirklich? Ist das so? Menschen können lernen. Sie haben einen Leib, der Erfahrungen macht und einen Kopf, in dem es denkt. Das verläuft individuell. Nicht in jedem Fall ist vorhersagbar oder – vielleicht noch schlimmer – vorher-steuerbar, was dabei herauskommt. Hilfreich ist aber stets, wenn die mediale Begleitmusik konstruktives Lernen unterstützt und nicht gewohnheitsmäßige Vorurteile.
„Wir erproben lieber zwei in sich nicht widerspruchsfreie Optionen gleichzeitig als keine von beiden“, ist nicht nur in der Politik, sondern in der Schulentwicklung ein spannendes Herangehen der Verantwortlichen. Wie geht so was in einer Schule, die – beispielsweise im Bereich der Leistungsüberprüfung und -rückmeldung – diese etwas verrückte Strategie kultivieren möchte?
Zum Beispiel so: Die Schulkonferenz beschließt als Sofortmaßnahme eine Veränderung der üblichen Prozedur der Schule in zweierlei Hinsicht, befristet auf das 2. Quartal des kommenden Schuljahres:
1) Keine Lehrkraft darf eine Klassenarbeit stellen, ohne die abzufragenden Teilkompetenzen 14 Tage vor dem Tag der Leistungserbringung schriftlich in altersgemäßer Sprache in der Klasse großformatig auszuhängen und auf einschlägige Lernangebote zu verweisen.
2) Am Tage der Leistungserbringung ziehen alle Schüler*innen von ihrer fertigen Klassenarbeit per Handy eine digitale Kopie und schicken diese an ihre Lehrperson. Die Arbeiten selbst werden anschließend von den Schülerteams gemeinsam korrigiert, die zusammen für die Arbeit gelernt haben – Änderungen bitte farbig. Anhand des Erwartungshorizonts, der heutzutage zu jeder korrekten Klassenarbeit gehört, vergeben die Teams Zensuren für jedes Mitglied. Die korrigierten Arbeiten gehen an die Lehrkraft. Sie guckt, ob anständig korrigiert worden ist – sonst ändert sie die Bewertung ab.
Und dann, im dritten Quartal, wenn der „Wahnsinn“ vorbei ist, findet ein Schulentwicklungstag statt. Eltern, Lernende und Lehrpersonal entwerfen gemeinsam eine neue Kultur der Leistungsrückmeldung. Wir vom IfpB hören schon den Shitstorm. Nein, das geht gaaaar nicht!!!!
Wieso? Probieren wir es doch einfach mal aus! Durch solche radikalen Erprobungen entstehen Erkenntnisse über Prozesse. Und zwar rasch! Wie gut ist das!