26 Nov

Politiker als Pädagogen

Heute möchten wir Ihnen mit dem Vierstufen-Entwicklungsmodell von Piaget erklären, dass Politiker auch mal pädagogisch handeln können.

Die Kaskade von Eriwan hat erheblich mehr Stufen (572) als das Entwicklungsmodell von Piaget (4). Wir nehmen heute diesen gewaltigen Treppenkomplex mitten in der armenischen Haupstadt nicht nur als Bild für Stufen, sondern auch zur Einnerung daran, dass politisches Handlen oft schwer zu erklären ist (Rücktritt vieler Minister wg Bergkarabach). Unsere Politiker haben aber gestern Abend eine guten Job gemacht durch mehrstufiges Erklären.

Gestern, im Laufe des Abends, traten Angela Merkel, Michael Müller und Markus Söder vor die Bundespressekonferenz. Sie teilten die Ergebnisse der Bund-Länder-Beratungen zu den weiteren Maßnahmen in der Corona-Krise bis zum Jahreswechsel vor. Politik eben. Wieso äußert sich das Blog-Team des IfpB dazu?

Weil Politik viel mit Pädagogik zu tun hat! Pädagog*innen nehmen Einfluss auf das Handeln von Personen in entwicklungsfördernder Absicht. Ihr Handwerkszeug kommt ins Spiel, wenn derjenige, der auf das Verhalten anderer einwirken will, in einer schwachen Position ist. Wenn er nicht die Macht hat, das gewünschte Handeln durchzusetzen. Wenn er darauf angewiesen ist, dass Menschen aus eigener Einsicht und selbstverantwortlich  vernünftig handeln. So wie in der Corona-Krise.

Aus dieser Sicht heraus haben wir gestern den Auftritt eines Pädagogik-Teams erlebt. Zwar haben die Länder, auch der Bund, die Möglichkeit, in der Krise Regeln zu setzen. Aber das erforderliche Distanz-Halten, das den Virus ausbremst, machen die Menschen selbst – so ange man sie nicht in Einzelzellen sperren kann.

Die Herausforderung für das Pädagogik-Team in der Bundespressekonferenz ist die Weckung der Bereitschaft aller Bürger*innen, sich den einschränkenden Regeln zu unterwerfen. Das wird ihnen nur gelingen, wenn jeder Mensch hier im Lande den Gedanken an sich heranlässt, dass das Halten von Distanz zwingend notwendig ist. Aber: Wie kommt diese Botschaft auch in die Köpfe der Corona-Leugner? Die ihre Köpfe dagegen immunisiert haben, die Problemlage und ihr eigenes Handeln miteinander in Beziehung zu setzen? Schauen wir mal in unseren Werkzeugkasten!

Der Sozialkonstruktivismus und die Systemtheorie erklären, dass sich sowohl das Individuum in seiner Umwelt als auch die sozialen Strukturen der Menschen im Zusammenwirken der Individuen jeweils selbst ausbilden (konstruieren). Mensch und menschliche Systeme erzeugen sich selbst; sie reagieren auf Reize in ihrer Art und Weise. Menschen werden nicht gesteuert, sondern sind autonom. Nur wenn die Selbstkonstruktion gut läuft, handeln sie im Zusammenleben sozial.

Der Schweizer Biologe Jean Piaget zählt zu den Begründern dieser Theorien. Er studierte, wie sich das Denken von Kindern mit zunehmendem Alter entwickelt. Ein Klassiker ist der Drei-Berge-Versuch: Kinder schauen von einer Seite auf ein räumliches Modell, das drei Berge zeigt. Sie sollen, anhand von Fotos des Modells von anderen Seiten her, überlegen, welche Sicht auf die Berge wohl ein Beobachter von links, von rechts oder von hinten hat. Piaget entdeckte so, dass Dreijährige noch nicht wissen, dass die Berglandschaft von rechts und von links anders aussieht als aus ihrer Perspektive. Fünfjährige wissen das dagegen in der Regel schon. Also, so Piaget, gibt es in der Entwicklung der kindlichen Logik einen Entwicklungssprung: Der Moment, in der die Fähigkeit entsteht, die Welt aus der Sicht der anderen zu sehen.

In seinen Forschungen identifiziert Piaget weitere Entwicklungsstufen, die das Kind auf dem Weg des Erwachsen-Werdens durchläuft. Als Biologe postuliert er, dass die Abfolge der Entwicklung eine durch die Natur gegebene Eigenschaft des Menschen ist: Bestimmten Altersabschnitten entsprechen bestimmte Entwicklungsstufen. Folgt man Piaget, so verfügt der erwachsene Mensch über eine formal-operative Logik: Jede Person verfügt über die Fähigkeit, sich alle anderen Menschen, genau wie sich selbst, als sinnvoll denkendes und handelndes Wesen vorzustellen. Piagets Theorie ist heute Allgemeingut; die Gültigkeit seiner Annahme bestimmt die sozialen Muster des Umgangs der Menschen miteinander.

Ein Problem hatte Piaget aber nicht auf dem Schirm: Auch wenn das Subjekt die Fähigkeit hat, seine Mitmenschen empathisch nachzuempfinden, so ist noch lange nicht gesagt, dass es davon Gebrauch macht. Denn die Emotionen bestimmen das Denken stärker als die Logik. Angst, Stress, Wut und Minderwertigkeitsgefühle überlagern die entwickelte Logik. Solche Gefühle führen dazu, dass Menschen auf frühere Entwicklungsstufen des Piaget-Modells zurückfallen: Die Emotionen blockieren die Filter solcher Subjekte, so dass die Reize, die auf die Weckung des sozial-konstruktiven Denkens der Menschen zielen, nicht im Denken ankommen. Pädagog*innen müssen sich etwas einfallen lassen, wenn sie diesen Filter überwinden wollen.

Politik ist wenig erfolgreich, wenn sie die Menschen nur auf der formal-operativen Ebene anspricht. Oft behandeln Politiker die anderen Logik-Ebenen verächtlich – Populismus ist ja zum Schimpfwort geworden. Wer sich auf der abstrakten Ebene nicht ansprechen lassen will, wird herablassend behandelt. Das spaltet die Gesellschaft. Denn die Menschen mit ihren starken Gefühlen fühlen sich verletzt.

Gestern hat das Pädagogik-Team in der Bundespressekonferenz seinen Job gut gemacht: Alle Maßnahmen erklärt es geduldig und auf verschiedenen Ebenen. Die Kanzlerin erläutert in klarer Sprache formal-operativ die zu treffenden Regelungen. Der Berliner regierende Bürgermeister spricht über sein Erleben vom Schrecken, den die Krankheit in der Hauptstadt für die Betroffenen hat. Er rechnet die Sterberaten auf die Republik hoch; die Lage ist so, als ereignet sich jeden Tag ein Mega-Unglück. Der Bayrische Ministerpräsident fordert noch mehr Einschränkungen und formuliert die Botschaft drastischer: Jeden Tag ein Absturz eines Großraum-Flugzeugs, allein in der Bundesrepublik!

Drei Politiker als Team, drei Logikebenen nach Piaget, heterogenitätsgerechtes Muster der Ansprache, adressatengerecht, inklusiv, wertschätzend. So kommt die Botschaft in alle Winkel des Landes. Gut gemacht! 

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