Systemische Pädagogik im Fahrradabteil
Heute bekommt einer unserer Mitarbeiter eine Stelle bei der Bahn angeboten!
Jetzt beginnen in NRW die Sommerferien. Das bevölkerungsreichste Bundesland eröffnet den Reigen. Schuljahresschluss ist der Zeitpunkt für Verabschiedungen. Wir im IfpB sind ein Netzwerk und so hat jede*r von uns, über die Republik verteilt, berufliche Freunde. Ein solcher wurde letzten Freitag nach treuen Diensten von der für Schulentwicklung verantwortlichen Landesbehörde in Schleswig-Holstein verabschiedet. Ein Kollege aus unserem Team reist dorthin. Natürlich mit dem Zug, wie es sich gehört, das Faltrad dabei, denn die Veranstaltung findet nicht in Kiel, sondern in einer rustikalen Location abseits der Zugstrecke nahe des Nord-Ostsee-Kanals statt.
Die Zugfahrt ist von Pannen gekennzeichnet. Im Fernverkehr der Bahn AG läuft es einfach nicht rund, das muss man nüchtern so feststellen. Der Zug fährt mit +15 Minuten wegen Verspätung eines vorausfahrenden Zuges ab Münster. Im Fahrradabteil sind noch drei Plätze frei und ohne Reservierung. Also parkt unser Kollege sein Faltrad dort. In Osnabrück wird der Zug angehalten, weil die Polizei wegen eines Personenschadens ermittelt und das Gleis gesperrt ist. In Bremen gibt es wieder eine Verzögerung, denn, wie der Bordlautsprecher verkündet, fehlt der Lokführer für die Weiterfahrt, weil dieser noch in einem ebenfalls ausgebremsten anderen Zug sitzt.
Nach einer halben Stunde setzt sich der ICE in Bremen wieder in Bewegung. Kurz vorher entert noch eine vierköpfige Radlergruppe das Fahrradabteil, aufgeregt, entnervt wegen des Ausfalls ihres gebuchten Zuges samt Fahrradstellplätzen. Der Info-Point in Bremen hat sie auf die nächste Fahrmöglichkeit mit Fahrradmitnahme verwiesen und der ICE stand auf dem Bahnsteig bereit. Also sind die Radelnden eingestiegen, Personen, die, leicht daran erkennbar, wie sie mit den schweren E-Bikes nebst Packtaschen herumwuchten, keine Profis der Radmitnahme im Zug sind. Unser Kollege klappt schon mal sein Faltrad zusammen und verstaut es im angenehm großen Gepäckfach des Sitzbereichs – in dieser Hinsicht sind die neuen Züge der Bahn-AG wirklich gut gelungen. Dann legt er mit Hand an beim Verstauen der neu zugekommenen Räder.
Der Zug setzt sich in Bewegung, alle entspannen sich, Sitzplätze sind auch noch frei, es könnte gut weitergehen, mit inzwischen +90 Minuten. Die Schaffnerin erscheint, eine junge Frau mit erschöpften Gesicht. Sie sieht das Chaos im Radabteil. Durch inquisitorisches Fragen findet sie heraus, wem die Räder gehören, die dort wild stehen, aber keine Reservierungen haben. Sie pfeift die Gruppe an. „Nächster Halt, Harburg, da steigen Sie aus. Ohne Reservierung befördern wir keine Fahrräder. So sind die Regeln bei uns.“ Die Gruppe ist erschreckt, erklärt die Zusammenhänge, will doch nur nach Hamburg. Das ist, wie unser Kollege, aber nicht die Bahn-Novizen wissen, von Harburg aus nur noch ein Katzensprung. Was soll man denn machen, wenn der Zug 200 fährt und im Radabteil ein ungeordneter Zustand herrscht, weil ein Rad mehr da ist als Haltebügel?
Doch es tut sich nichts. Die Schaffnerin verschwindet und kommt mit einem Kollegen wieder. Der Mann scheint kommunikativ geschult zu sein. Auch er kommandiert herum, wiederholt die Drohung mit dem Ausschluss von der Fahrt in Harburg. Aber er vergreift sich nicht im Ton. Immerhin erklärt er, dass es um die Sicherheit im Zug geht. Der Fluchtweg muss frei sein, und das ist er im Moment definitiv nicht. Der Zugchef trommelt sämtliche Fahrgäste mit Rad zusammen, die alle im näheren Umfeld des Fahrradabteils sitzen. Dann weist er, mit Zack-Zack-Stimme eines preußischen Beamten, jeden einzelnen Fahrgast an, wo er sein Rad zu parken hat. Das dauert, denn er weiß ja nicht, wem welches Rad gehört. Und so richtig flexibel ist er auch nicht. Ein schweres E-Bike in die Deckenhalterung wuchten und ein leichtes Rad waagrecht einhängen, nur weil die Fahrradkarten das vorgeben, ist wenig sinnvoll – praktischer ist, wenn man die Stellplätze tauscht. Sklavisches Orientieren an der Stellplatznummer hilft hier nicht so recht weiter. Die Radfahrenden erweisen sich als träge Subjekte und machen nur widerwillig mit. Es dauert. Kurz vor Harburg ist der Fluchtweg wieder frei, das Schauspiel ist beendet, das Volk nimmt wieder Platz.
Unser Kollege wendet sich an den Schaffner und sagt: „Ich möchte ihnen gerne ein kleines Feedback geben. Es ist sicher gut und richtig, dass Sie hier für die Einhaltung der Sicherheitsregeln sorgen. Aber die Art, wie Sie das machen, passt nicht zur Situation. Sie repräsentieren hier den Fahrgästen gegenüber eine Bahngesellschaft, die in vieler Hinsicht ihre versprochenen Leistungen nicht erbringt. In so einer Situation können Sie, finde ich, nicht so auftreten, wie Sie das tun.“ „Wieso,“ erwidert der Zugbegleiter, „habe ich mich etwa unpassend ausgedrückt? Das ist mir nicht bewusst! Sie können sich gerne beschweren. Ich habe in jeder Hinsicht korrekt gehandelt!“ „Ja, das haben Sie,“ bestätigt unser Kollege, „aber trotzdem geht das so nicht!“ „Wir sind hier unterbesetzt im Zugteam. Meine Kollegin und ich hätten eigentlich schon vor 2 Stunden Feierabend. Die Bahn sucht dringend Personal. Sie scheinen sich ja auszukennen. Bewerben Sie sich doch, wir nehmen inzwischen jeden!“ Spricht, dreht sich um, und taucht bis Kiel nicht mehr auf.
Unser Kollege und systemischer Berater überlegt: Was läuft hier falsch? Alle haben Stress, die Radler genauso wie der Zugchef. Alle Beteiligten fallen zurück in die Interaktion preußischer Schultradition. Statt sich wechselweise als Ressource zu begreifen, verfallen die Akteure in die Rollenmuster von Diktat und Gehorsam – einschließlich der Nebenwirkung des Widerstandes derer, die sich nicht unterordnen wollen. Zwar in zeitgemäßer Sprache, aber im traditionellen Denken.
Unser Kollege hätte seine Vision von einer zeitgemäßen Bahn dem abgetauchten Zugchef gerne noch mitgeteilt. Schade, denn dabei wäre herausgekommen, dass der gute Mann in der Stresssituation vieles richtig gemacht hat. Die gute Lösung liegt gar nicht weit weg. Daher formuliert er hier, im Blog Pädagogik der Gegenwart, seine Botschaft allgemeiner:
„Liebe Deutsch Bahn! Fahrradmitnahme im Fernverkehr ist zu Stoßzeiten konfliktträchtig. Haltet trotzdem an diesem Service fest! Stellt Euch auf den unvermeidlichen Stress ein, indem ihr euren Leuten folgende Haltung beibringt: „Als erstes rufe ich alle zusammen, die ein Rad dabeihaben. Dann erkläre ich das Problem des Fluchtweges und der Kippsicherheit. Dann bitte ich, möglichst höflich, die Gruppe, das Problem in den nächsten 10 Minuten zu lösen. Dabei frage ich die Anwesenden, ob sie von mir, als erfahrenem Bahn-Mitarbeiter, dazu Tipps haben wollen. Mit großer Sicherheit bekomme ich die Chance zu erklären, wie ich es gerne hätte, und das mit voller Aufmerksamkeit von allen Beteiligten. Wenn es nach Problemen riecht, erwähne ich noch, dass ich ungern gezwungen sein möchte, die Personen ohne Rad-Reservierung in Harburg des Zuges zu verweisen – denn dann hätte diese Zugfahrt wohl nicht mehr +90, sondern +120 Minuten bis Hamburg Hbf. Dann verlasse ich die Szene und mache das, was für mich als Zugbegleiter als nächstes dringend ansteht. Aber ich vergesse nicht, nach 10 Minuten zurückzukommen und mich herzlich bei den Fahrgästen für ihre Kooperation zu bedanken.“