01 Aug

Jahrestage und Abschiede: Ciao Christian!

Wenn Sie das Foto wundert, müssen Sie halt lesen: Erklärt sich über die Person!

Aus der Sichtweise des Gesamtsystems sind Jahreswechsel – das Umspringen des Zählwerks von Jahr Nr. x zum Jahr Nr. x+1 – stets Ereignisse hoher Dramatik. Für die einzelne Person ist so ein Übergang nicht unbedingt bedeutungsvoller als jeder Übergang von einem Tag zum anderen, der erfolgt, wenn die Digitaluhr auf 0:00 Uhr springt.

Wie jedermann und jederfrau weiß, ist das im Zusammenhang mit den Jahresübergängen individueller Art, vor allem dem eigenen Geburtstag, anders. In der Grundschule ist enorm wichtig, den Tag, an dem die Lernenden der jahrgangsübergreifenden Klasse 3/4 in das nächste Lebensjahr stürzen, würdevoll in der Gemeinschaft zu begehen.

In einer JüL-Klasse1 ist diese Herausforderung doppelt wichtig, da er jedem Kind im Regelfall zwei-, gelegentlich sogar dreimal widerfährt. Sollte das Kind das Gefühl haben, sein individueller Jahresübergang werde in seiner Lerngruppe nicht wertschätzend aufgenommen, so kann das die Motivation trüben, im nächsten Lebensjahr genauso engagiert in der Lerngruppe zu arbeiten wie im letzten. Wir IfpB.ler*innen2 sind sogar der radikalen Auffassung, dass sich auch daran, wie die Schule Geburtstage begeht, offenbart – besser als in vielen theoretischen Debatten – ob hier wirklich inklusiv gearbeitet wird!

In bestimmten Jahren entfaltet das trockene Schuljahrs-Sylvester-Neujahr-Rucken bei Mitgliedern des Systems geburtstagsähnliche Bedeutung. Der Schuljahres-Übergang, gemäß Verfügung der KMK am 31.7. auf 1.8. im Kalenderjahr, ist der Regeltag für laufbahnbezogene Transformationen. Der Zeitpunkt liegt für alle in den Ferien –nicht unbedingt in der Mitte, weil im Norden die Schulferien früh im Jahr und in Bayern stets spät liegen. Er findet folglich statt, wenn keiner da ist! Denn an diesem dramatischen Datum ist die ganze Lehrerschaft der großen Republik in Ferien – Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber bitte: Wie soll man den Übergang würdig begehen, wenn alle weg sind?

Diese Problematik hat unter anderem ein zum 1.8.22 in den Ruhestand wechselnder Schulentwicklungsberater in Schleswig-Holstein, eine Person, die sich im wahren Norden einen Namen gemacht hat: Christian Kühme, langjähriger Leiter der für SEB3 zuständigen Abteilung des IQSH 4 in Schleswig-Holstein! Wer die Szene im Norden und Westen der Republik kennt, wird diesen Abschied mit Aufmerksamkeit wahrnehmen, das weiß Christian. Und damit ist es für diese treue Seele eine Verpflichtung, eine gute Lösung für ein Lebewohl zu finden.

Denn hier geht eine Person im Bundesland zwischen den Meeren in den Ruhestand, die durch besondere Freundlichkeit, unendliche Zähigkeit beim Umsetzen der als richtig erkannten Linie von Schulentwicklung, durch Hinterlegung aller bunten Theorie mit praktischen Bildern für Verstehbarkeit und Erfolg gesorgt hat! Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, wie es ohne ihn als Ressource vernünftig weitergehen soll! Christian: gelernter KFZ-Mechaniker, zum Lehrer umgeschult, von einer schlauen Landesbehörde eingefangen! Er hat das Zeug, auch unrund oder gar nicht laufenden Systemen wieder Leben einzuhauchen, egal, ob es sich um betagte Automobile oder betagte Kollegialstrukturen von Schulen handelt.

Erschwerend im Sinne von Verlust kommt hinzu, dass dieser Christian viele Werkzeugkästen beherrscht. Er arbeitet und denkt teambezogen, übernimmt aber auch –wo nötig- die Alpha-Rolle als Funktion, aber nicht als Charakter! Sagt klipp und klar, wo es langgeht – na ja, wo es langgehen könnte oder sollte – aber wirkt dabei kein bisschen anmaßend, arrogant oder oberlehrerhaft! So einen Menschen zu kennen ist eine Freude fürs Leben! Also zeigt Christian, dass er weiß, was sich gehört: Bevor er entschwindet, lädt er noch mal, ganz der Chef, zu einer Dienstversammlung nach der Art des Hauses IQSH 4 ein. Diese verlegt er aber sinniger Weise nicht in die heiligen Hallen in Kronshagen bei Kiel, sondern in ein wunderbar restauriertes Fachwerkhaus nahe des Nord-Ostsee-Kanals, also einem wirklichen Ort landestypischer Kultur seines Bindestrich-Bundeslandes. Die Einladung zur Dienstversammlung geht auch bei einem Berater unseres IfpBs aus Münster ein. Sonderbar, denn Münster liegt in einem durch und durch anders „gestrickten“ Bindestrich-Bundesland. Beglückt nimmt unser Berater die Einladung an – wie die Zugfahrt aus dem Westen in den wahren Norden verläuft, schildert der Blogbeitrag vom 23.6. „Systemische Pädagogik im Fahrradabteil“. Das ruft nach Erklärung, wie das sein kann!

Wir vom IfpB arbeiten bekanntlich nicht nur im Land zwischen Rhein und Weser, sondern überall dort in Deutschland, wo wir eingespannt werden. Das passiert immer dann, wenn es am Zielort eine Person gibt, die dort in die Strukturen eingebunden ist. Glaubt diese Person, es sei hilfreich, die spezifische Kompetenz anzufragen, die das IfpB in der bunten Welt der pädagogischen Beratung bietet, so landet die Anfrage bei uns. Denn wir verkaufen keine Rezepte, handeln nicht mit Theorie, sondern stehen denjenigen, die Change wirklich umsetzen, mit Rat und Tat zur Hilfe. Hier ist der personale Faktor das Hydraulik-Öl – so würde Christian vielleicht sagen – das für die Übertragung des Drehmoments sorgt.

Dass unser Berater nicht nur jetzt – zum letzten Mal? ­– mit dem Zug zu einer IQSH 4-Dienstbesprechung düst, ist zweifelsfrei auf Christian zurückzuführen. Als vor vielen Jahren im wahren Norden die Idee der Gemeinschaftsschule staatlich implementiert werden sollte, hat er ihn nach Kiel gelockt, weil er in Berlin, der Hauptstadt, damit einschlägige SEB-Erfahrungen sammeln konnte. Seitdem haben Christian und er immer wieder zusammengearbeitet.

Die Kooperation lebt von großem wechselseitigem Respekt. Unserem Berater fiel, dort im wahren Norden, irgendwie die Rolle zu, im staatlichen System der Schulentwicklung im konstruktivistischen Sinne als „Disturbator“ zu wirken. Das ist, präzise gesagt, eine Mischung zwischen Störenfried und kritischem Freund. In dieser Rolle ist unser Berater, wie sich bei seiner Ankunft bei der Party zeigt, nicht nur Christian, sondern etlichen anderen IQSH 4-Mitgliedern vertraut. Wie schön, das zu erleben!

Also will unser Berater, als alle ein paar bewegende Abschiedsworte sprechen, auch nicht hintanstehen und meldet sich zu Wort. Schon vorher ist ihm aufgefallen: Keiner der im SEB-Bereich im wahren Norden aktiven Menschen kann sich die Welt nach Christian als gut vorstellen. Wir müssen ihn doch dazu bringen, noch eine Weile seine Kompetenzen mit uns zu teilen! Wie schaffen wir das?

Na klar: Indem man Christians Kompetenz so praktisch beschreibt, dass er nicht anders kann als anbeißen! Wofür steht Christian Kühme eigentlich? Er steht dafür, dass er das eine beharrlich vertritt, aber sich und sein Umfeld gerne auch mit dem anderen, dem Gegenpol, verbindet. Im Motor will sich der eine Kolben gerne drehen, doch der zweite weigert sich – das ist ein echtes Christian-Kühme-Problem! So denkt er auch – das ist das Unschätzbare an ihm – wenn er selbst Teil des Motors und zufällig genau er einer der beiden Kolben ist! Also, denkt unser Berater, hier will jemand gehen, der die Differenz als solches schätzt! Ein Ruhestand, wo die Differenzen ruhen, droht öde zu werden – nach spätestens sechs Wochen. Damit packe ich ihn, damit er doch bleibt!

Wodurch unterscheidet sich der wahre Norden, der weitere kluge Köpfe hervorbringt, wie beispielsweise Robert Habeck, vom Rest der Republik? Wo ist der schärfste Kontrast zu NRW – eine Frage, die Christian gerne aufwirft? Das kann ich ihm erklären: In Schleswig-Holstein (SH) glaubt die staatliche Struktur, dass die politische Welt nicht nur regierbar, sondern gestaltbar ist! In NRW tun die Verantwortlichen auch so, als glaubten sie es, doch sie glauben es nicht.

Die Differenzen – wo kommen sie her? Unser Berater glaubt, es liegt am Meer: Wenn Nord- und Ostsee gleich von beiden Seiten kommen, dann kann man der Bedrohung nur Herr werden, wenn man sich zusammenschließt, und zwar unter wohlmeinender Anleitung von Väterchen Staat! Dann schafft man nicht nur so vernünftige Einrichtungen wie einen Kanal, der zwei Meere als Groß-Schifffahrtsstraße verbindet, sondern die Schulform Gemeinschaftsschule, wo die Kids die Kompetenzen gemeinsam erwerben, die man zum kooperativen Leben mit dem Meer und überhaupt benötigt.

Wenn aber, wie in NRW, das Meer durch Stau-Gewässer wie dem Baldeney-See in der Ruhr bei Essen oder dem Halterner Stausee repräsentiert wird, so hat das wenig Durchschlagskraft. Man braucht nicht den Staat, sondern seine Nachbarschaft, um im Gefahrfalle zu bestehen, und hofft auf Gnade des wasserwirtschaftlichen Kommunalverbandes. Der Staat selbst kommt da nur unter „ferner-liefen“. So sehen es die „Natives“ des Ruhrgebiets und werden zu heimlichen Regional-Anarchisten. Kommt also ein SEB zur Realschule in Essen-Altenessen und gerät in den Verdacht, diese Schule, die seit Menschengedenken im Stadtteil einen guten Ruf hat, im staatlichen Auftrag in eine Gemeinschaftsschule umwandeln zu wollen, so kann er gleich einpacken! Denn hier betreiben die Menschen mit ihrer Seele schon längst eine Gemeinschaftsschule, haben das aber noch nicht gemerkt, und darum ist ihnen noch nicht klar, dass die realschulische Ausbildungs- und Prüfungsordnung anti-inklusiv gestrickt ist. „Wir lieben sie trotzdem“, sagen die Lehrkräfte im Ruhrgebiet, der Herzkammer von NRW, wenn sie an ihre Schüler*innen und deren Eltern denken. Sie reißen sich ein Bein aus, kämpfen gegen Windmühlenflügel eines heimlich anti-inklusiven Strukturelementes ihrer Realschule und merken, wie die Kräfte schwinden. Das ist der Punkt, an dem in NRW ein kompetenter SEB seinen Ansatzpunkt findet, wenn er sich als wirksam erleben will.

Das Schöne, lieber Christian, ist, dass beide Welten gleichzeitig existieren, und zwar sowohl in NRW als auch in SH. Wir arbeiten alle in einer Welt und sprechen miteinander! Du ahnst den Wert dieser Kommunikation und stellst Dich dem Fremden! Wohl wissend, dass dadurch zuerst Beziehung und dann auch Freundschaft entsteht! Also wisse, alter Haudegen: Diese Freundschaft lebt davon, dass Du auf dem Parkett bleibst. Auf dem Friedhof wird sie zur goldenen Erinnerung. Dann ist der Motor aus, auch wenn alle Zylinder noch intakt sind. Also überlege Dir gut, wie Du im Ruhestand leben willst! Wir, die im Feld bleiben, vermissen Dich nicht, denn wir können auch allein! Aber schöner wäre es, Du mischtest Dich weiterhin ein!

1 Jahrgansübergreifendes Lernen

2 Mitarbeitende des IfpB (Institut für pädagogische Beratung, Münster)

3 Schulentwicklungsberatung

4 Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein

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