07 Mai

Gesucht: Ein ein besserer Begriff für Unterricht!

Wir ziehen Bilanz: Zwei Beratungsgespräche in Berlin mit zwei Projekten, die unterschiedlicher wohl kaum aussehen können. Zum einen ein berufliches Oberstufenzentrum, dessen Kollegium überlegt, Teamarbeit und selbstverantwortliches Lernen zum Gegenstand eines inneren Schulentwicklungsprozesses zu machen. Und zum anderen eine Initiative von Lehrkräften, die gerade aus der Lehrerausbildung kommen, und ihre Traumschule des gemeinsamen Lernens von Jahrgang 0 bis 10 realisieren wollen. Zwei sehr unterschiedliche Entwicklungskontexte, zwei sehr übereinstimmende Zielsetzungen.

In beiden Beratungsgesprächen geht es darum, die nächsten Handlungsschritte umzusetzen: Von der individuellen Ausgangslage der beteiligten Personen, die vor allem von Vorerfahrungen aus dem berufsspezifischen Sozialisationsprozess geprägt sind, in eine kooperativ-kollegiale gute künftige Praxis zu kommen.

Hier verknüpfen sich personale Erfahrungen mit visionären Zukunftsvorstellungen – wie so oft im Leben. Als Beratende ist unsere Aufgabe, die Ebene des Gestaltens konkreter Schritte in die Zukunft mit der Verständigung darauf, wie die Zukunft aussehen soll, zur Deckung zu bringen. Denn konkretes Handeln, das nicht durch gemeinsame Visionen hinterlegt ist, ist wie Tappen im Dunkeln, ohne Richtungsorientierung. Visionäres Denken dagegen gilt als „theoretisch“, als wirklichkeitsfremd und als frustrierend, weil der Abstand zwischen Ist- und Sollzustand übermächtig wird.

Als systemisch agierende Pädagog*innen folgen wir da dem Grundsatz, das, was man tatsächlich tut, genau und vertieft zu betrachten. Denn im Handlungsfeld verknüpfen sich Vergangenheit und Zukunft. Beide Projekte beschäftigten sich mit dem Entwurf eines zukunftstauglichen Lernsystems. Die Entwerfenden sind hier die Personen, die sich für das Handlungsfeld zuständig führen: „Wie gestalten wir – ich als Person und wir als Team – den Unterricht?“

Wir als Beratende nehmen eher die Funktionsweise des Lernsystems in den Blick. Was passiert im Lernsystem einer Schule, wenn Lehrkräfte das tun, was sie als ihre Aufgabe den „Unterrichtens“ wahrnehmen? Dieser Begriff, aus der Nähe betrachtet, stimmt nachdenklich.

Führt „Unterrichten“ zum Lernen der „unterrichteten Subjekte“ in einem zeitgemäßen, auf Selbsttätigkeit, Kompetenzaufbau und personaler Autonomie gründenden Lernverständnis? Die Tätigkeit des „(unter)Richtens“ klingt einerseits nach „Ausrichten“, also einer Tätigkeit, die darauf zielt, Objekten eine bestimmte Richtung zu geben. Der Begriff unterscheidet klar zwischen den Handlungen einer Person, die die Richtung vorgibt, und einer, die eine Richtung erhält. Das Präfix „unter“ scheint die Hierarchie zwischen Unterrichtenden und Unterrichteten noch zu verstärken. Intensiviert wird die Vorstellung von einer Handlungshierarchie noch durch die zweite Bedeutung von „Richten“ im Sinne des Urteilens über Personen. Die nähere Besichtigung des Begriffes „unterrichten“ öffnet also – aus dieser Perspektive besehen – eine große Spannweite von Ausdeutungen, die uns unangenehm berührt an Dirigismus und Manipulation denken lassen.

Dessen ungeachtet ist es berechtigt, wenn Lehrpersonen ihren Auftrag nicht nur als die Betreibenden eines Lernsystems auffassen, in dem es der Beliebigkeit überlassen ist, in welche Richtung sich die Lernenden entwickeln. Lehrer*innen sind nicht nur Gestalter eines Lernraumes, sondern haben auch den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Lernenden „guten Zielen“ folgen. Ihre erste und wichtigste Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lernende in Lerngruppen zusammenkommen und sich dort Ziele des Lernens setzen, die auf den Erwerb der Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen und Handlungsdispositionen zielen, welche in der künftigen gemeinsamen Welt erforderlich sind. In diesem Zusammenhang ist es ihre Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Verständigung auf die Ziele des Kompetenzerwerbs in der Lerngruppe gemeinsam ausgehandelt wird. Sie sind aber nicht die einzigen „Bestimmer“ über die Ziele, sondern bestimmen diese nur mit. Die Lernenden sind in gleichem Maße „Mitbestimmer“ der Ziele zukunftsorientierten Lernens. Und es gibt, soweit es um Schulen geht, noch einen dritten Auftraggeber, der bei der Zielsetzung mitzureden hat: Der demokratische Staat, vertreten durch Schulministerium und Schulaufsicht, und das örtliche Umfeld, in das die Schule eingebettet ist, mit dessen gesellschaftlichen Strukturen.

Bevor also „Unterricht“ stattfinden kann – als eine von mehreren Lernformen in heterogenen Lerngruppen in einem bedarfsorientiert gestalteten Lernsystem – haben Lehrpersonen erst einmal die Aufgabe, für einen gründlichen Prozess der Zielverständigung unter Berücksichtigung der „Mitrede-Rechte“ der verschiedenen Beteiligtengruppen zu sorgen. Der Zielklärungsprozess mündet in einen Auftrag an die Personen, die als Lehrkräfte agieren wollen und sollen. So werden sie zu Agenten der Lerngruppe, die sich dadurch bildet, dass der Zielklärungsprozess stattfindet.

„Unterrichten“ ist also nicht die Kernaufgabe von Lehrpersonen, die gemeinsam Schule machen wollen. Genauer: „Unterrichten“ ist eine nachrangige Tätigkeit von Lehrpersonen. Die Hauptaufgabe ist, gelingendes Lernen zu initiieren, zu gestalten, zu begleiten und zu kommentieren (im Sinne von Feedback-Geben). Wenn es um „Unterrichtsentwicklung“ geht, so darum, die Schule gemeinsam so zu konstruieren, dass erfolgreiches Lernen gelingt. Erst aus dieser Grundposition heraus lässt sich schlüssig herleiten, wer dabei was tut oder nicht tut.

Die Dominanz des Begriffs „Unterricht“  verstellt für Lehrkräfte – sowohl der Lehrkräfte der Berufsschule als auch der Aktiven des Schulprojektes – den Blick auf die Zusammenhänge des Lernens. Er verführt dazu, dass sich deren Denken um ihr eigenes Handeln statt um die Unterstützungsbedarfe der Lernenden dreht.  Wir als Beratende müssen dieser Tendenz entgegenwirken. Das erleben wir als schwierig.

Gedanklich hilfreich wäre in diesem komplexen Prozess, wenn jemand wenigstens schon mal einen passenderen Begriff für die Tätigkeit der Personen prägen könnte, die den Auftrag der „Initiativlinge“ im schulischen Lernsystem einnehmen. Wer hat eine Idee?  

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