Vom fliegen lernen
Unser Schulentwicklungsberater hat ein bisschen geträumt: Ferienzeit – Lernzeit?
Unsere Beratungspersonen werden tätig, wenn die Klienten rufen. In der zweiten Julihälfte ist es üblicherweise still. Ferienzeit. Da laufen Bildungseinrichtungen, die wir beraten, auf Sparflamme. Bildungsprozesse auch, oder?
Unsere Beratungsperson sitzt auf dem Balkon: Einfach nur mal in den Garten gucken – wann hat man schon dafür Zeit? Die Blumen auf der Brüstung blühen, die Bäume leuchten grün. Friedliche Stimmung im Blockinnenbereich. Wohnen in der Stadt kann schön sein.
In diesem Jahr gibt es wieder Spatzen. Viele Jahre gab es hier keine, nun sind sie wieder da. Ein Spatz fliegt einen herausstehenden Ast einer Konifere im Nachbargarten an. Der Ast wippt, der Vogel hüpft auf einen kleinen Nachbar-Ast weiter, dreht sich um. Ein Jungvogel flattert herbei. Er landet, etwas ungeschickt, auf dem großen Ast und rückt nahe an den Stamm heran, ihm folgen drei weitere mit heftigem Flügelschlagen. Schließlich bilden die vier Jungvögel eine ordentliche Reihe auf dem Ast, aufmerksam beobachtet vom Elternvogel. Lautes Gezwitscher. Eine kleine Weile bleibt die Szene statisch. Fast kann man sich vorstellen, wie das Elternteil kommentiert: „Gut gemacht, die Landung, ihr Kids!“ Der Elternvogel dreht sich um, spreizt die Flügel und legt einen dynamischen Flugstart hin. Die Jungvögel heben der Reihe nach ab. Nicht ganz so perfekt, mehr Flattern und weniger Eleganz. Aber erfolgreich!
Hier ist offensichtlich eine Flugschule unterwegs.
Ein erfahrener Spatz betätigt sich als Coach. Er führt eine Gruppe von Jungvögeln in die Geheimnisse des Fliegens ein. Als guter Coach beobachtet und bestärkt er das Treiben. Er agiert sowohl als Feedbackgeber als auch als Modell für die Lernenden. Solange sich das erfahrende Tier den Jungspatzen zuwendet, agiert er in der Rolle des Lernbegleiters. Dann dreht er sich um – nimmt er die gleiche Flugrichtung wie die Jungtiere ein – und startet als Lernmodell voraus.
Unsere Beraterperson ist fasziniert. Sie holt sich einen Cappuccino und setzt sich wieder auf ihren Beobachtungsposten. Gibt es noch mehr Derartiges zu sehen? In der Tat! Noch zweimal trainiert die Gruppe An- und Abflug an anderen Bäumen im Garten, dann verschwindet sie irgendwo im Blockinnenbereich.
Offensichtlich gibt es in der Flugschule keine Sommerferien. Lernen und Leben sind nicht getrennt, sondern finden integriert statt. Wieso ist das bei den Menschen eigentlich anders? Alle freuen sich darauf, dass die Ferien ausbrechen und das Lernen ein Ende hat. Nichts tun versus lernen – sind das eigentlich klassische Gegensätze, so wie offensichtlich alle Welt glaubt?
Inspiriert durch die Vogelbeobachtungen kommt unsere Beratungsperson ins Träumen. Viele Schüler*innen sind in diesen Sommerferien angehalten, zusätzliche Lernangebote zu besuchen. Es gilt, die Corona-Defizite auszugleichen. Folgt man dem Gegensatzpaar von Nichtstun und Lernen, so ist das ja eine Strafe für die Armen! Und auch für die Lehrpersonen, die um ihre freie Zeit gebracht werden. Lässt sich hier nicht umdenken und eine andere Praxis stiften, am Beispiel der Flugschule?
Es könnte so schön sein! Drei Lehrpersonen, eine Deutsch-, eine Englisch- und eine Mathelehrkraft treffen sich im Park, stellen ein paar Tische, Bänke und Sonnenschirme auf. Jede bringt einen Packen spannender Aufgaben aus ihrem Fach mit und legt sie auf den Tischen aus. Jede der drei wählt sich eine interessante Aufgabe aus dem Fundus aus und beginnt, daran zu arbeiten, zeigt den anderen, was sie macht. Bei Bedarf holt sie sich Beratung bei der Fachperson, befragt das Internet oder studiert, wenn sie selbst die Fachperson ist, die mitgebrachten schlauen Fachbücher.
Natürlich weckt dieses Treiben Aufmerksamkeit. Besonders, wenn ein Sponsor Saft und Brezeln für alle anbietet. Kinder und Erwachsene kommen dazu. Sie werden herzlich eingeladen, Platz zu nehmen und mitzumachen. „Hier könnt Ihr ein paar Dinge lernen, die Ihr in der Coronazeit in der Schule nicht mitbekommen habt. Wäre das nicht schlau? Es macht Spaß! Bestimmt findet sich hier jemand, der Tipps gibt, Eure Lösungen anschaut und Euch lobt, wenn Ihr gute Ideen habt.“
Die Lehrpersonen betätigen sich als Modell und als Coach. Bei den Aufgaben, die sie selbst lösen, lassen sie alle zugucken und Fragen stellen, die das wollen. Bei Aufgaben, die Kids – oder auch Erwachsene – sich selbst auswählen, unterstützen sie durch Beratung und Kritik beim Vorankommen. Produkte werden ausgehängt und werden so zum Gegenstand von lernbezogener Kommunikation.
„Seid ihr morgen auch da?“ fragen die Kids. „Wenn das Wetter mitspielt, sind wir die ganze Woche hier im Park. Habt Ihr Wünsche? Was für Aufgaben sollen wir Euch mitbringen – vielleicht etwas, was Euch nach den Ferien auch für die Schule was bringt?“ antworten die drei Lehrpersonen.
Unsere Beratungsperson taucht aus dem Tagtraum auf. Wie schön könnte das sein, so zu lernen! Wer hat Lust mitzumachen? Egal, ob im Sommer oder im Winter. Mit anderen zusammen aktiv sein – das ist doch Ferien pur. Sich die Zeit zu nehmen, das zu tun, wohin einen die eigene Lust treibt, zusammen mit Partner*innen.
Eine schöne Idee! Die muss man verbreiten! „Darüber schreibe ich meinen nächsten Blogbeitrag in der Pädagogik der Gegenwart denkt unsere Beratungsperson, holt den Laptop und schreibt diesen Beitrag, eingehüllt vom Summen der Hummeln an den Balkonblumen und dem Zwitschern der Vögel im Garten.
Genau diese Situation des gemeinsamen Lernens und Lebens wie bei den Eltern- und Kindervögel habe ich erleben und genießen können, als der 1. Lockdown die Schule erwischt hat und wir uns auf den Weg gemacht haben, unsere pädagogischen Säulen unseres Schulprogramms (Individualisierung, Selbständigkeit, Gruppenlernen, Demokratielernen etc) in die volle Digitalisierung zu übertragen. Ich habe es genossen, mit den Kindern zusammen (und es waren Kinder im 1. Und 2. Lernjahr dabei extrem kreativ und erfolgreich) gute digitale und gleichzeitig gute pädagogische Lösungen zu suchen und zu finden, gemeinsam mit den Kindern in eine echte Lernsituation für alle Beteiligten zu gehen. Diese positive Erfahrung beflügelt mich, mal vorzufliegen, mal sitzen zu bleiben, zu beobachten und zu genießen. Diese tille Erfahrung wünsche ich möglichst vielen meiner Kolleg.innen! Traut euch!