Eindrücklichstes Ferienerlebnis
Unser Berater philosophiert heute über das Osterferienende, über das besondere Ferienende durch Corona und ganz besondere Ferienenden durch besonders gedankenlose Lehrer*innen – das war dann natürlich so ziemlich früher…
Die Beratungstätigkeit des IfpB ebbt mit Ferienbeginn ab und steigt gegen Ende wieder an, Osterferienende. Die Testung aller Beteiligten wird zur Pflichtaufgabe von Schule. Das ist in erster Linie eine Herausforderung einer pädagogischen Gestaltung des Prozesses. Organisation sollte Pädagogik folgen – nicht umgekehrt. Tatsächlich erleben wir es, dass Schulleiter*innen zu solchen Fragen Beratung einholen. Allerdings nur als Ausnahme von der Regel.
Wie versetzt die Schule die Kinder in die Lage, Corona-Selbsttests wirksam durchzuführen? Viele Schulleitungen denken von der Organisation her, nicht aber vom Lernen und Können der Betroffenen. Es gibt aber auch Schulleitungen, die die Herausforderung als pädagogisches Problem auffassen. Pädagogisches Denken zeigt hier verblüffende Lösungen und öffnet ungeahnte Handlungsoptionen.
Aber davon soll hier nur am Rande die Rede sein. Auch unsere Beratungspersonen brauchen Ferien. Raus aus dem Alltag. Dinge erleben, die man im normalen Hamsterrad nicht erlebt. Und hinterher, wenn es weiter geht, die Gelegenheit, davon zu erzählen.
Ein Berater aus unserer Gruppe erinnert sich. Als Kind musste er einen Aufsatz schreiben: „Mein schönstes Ferienerlebnis.“
Er kam aus einer großen Familie, die in den Osterferien zuhause blieb. Was war sein schönstes Ferienerlebnis? Er war mit dem Hund spazieren gegangen, der Hund riss sich los, verfolgte ein Kaninchen, wäre fast vom Auto überfahren worden. Aber, großes Glück, alles ging gut.
Der Aufsatz unseres Beraters fand keine Gnade bei seinem Deutschlehrer. Mit dem Hund rausgehen – das kann man doch auch in der Schulzeit. Wenn der Hund wegrennt, ist das doch kein schönes Erlebnis. O.k., die Geschichte war lebendig geschrieben, also nicht mangelhaft trotz verfehltem Thema, sonders insgesamt noch ausreichend.
Unser Berater hat dabei gelernt, was Diskriminierung bedeutet. Die besten Zensuren gab es für die Aufsätze, die von aufregenden Reisen handelten. Für eine Ostereiersuche an der niederländischen Westküste in Zandvoort aan Zee gab es ein gut, für einen Segelturn in der Ägäis ein sehr gut.
Wahrscheinlich wollte der Deutschlehrer das nicht. Er hatte wohl nicht genau über die Nebenwirkungen seines Arbeitsauftrages nachgedacht.
Die Gegenreaktion heute: „Das Thema geht gar nicht“, wird gesagt. Wie vermeidet man Diskriminierung? Wir wollen doch niemanden verletzen. Also: Am besten thematisiert man die Ferien gar nicht. Wenn gar nicht sichtbar wird, dass das eine Kind mit den Eltern in den Urlaub jettet und das andere Kind die ganze Zeit zu Hause bleibt, so ist doch alles o.k. – oder?
Solches Denken kann zur Verengung der Wahrnehmung führen. Schüler*innen in unseren Lerngruppen haben nun mal unterschiedliche Lebensbedingungen. Je weniger sie sichtbar werden, desto gerechter erscheint die Welt. Am besten vermeidet man das Sprechen über Individualität, denn die ist Verschiedenheit. Das widerspricht dem Gleichheitsideal. Oder?
Im Gegenteil: Die entscheidende Frage ist, wie man mit Verschiedenheit umgeht. Wenn man sie bewertet– dann trennt sie die Welt in besser und schlechter. Wenn man sie als Vielfalt auffasst– dann verknüpft sie verschiedene Welten zu einer gemeinsamen reicheren Welt.
Kann eine weißhäutige Europäerin die Lyrik einer farbigen Amerikanerin ins Deutsche übertragen? Oder sind die sozio-biographischen Unterschiede zwischen diesen beiden Menschen so groß, dass so etwas verboten gehört?
Aus Sicht der Pädagogik ist dieser Gegensatz unfruchtbar. Lernen erfordert die Störung (Disturbation) der gewohnheitsmäßigen Wirklichkeitskonstruktion der Beteiligten. Das Ich mache es anders als du ist der Treibstoff der Entwicklung. Wir gucken dann gemeinsam darauf, was herauskommt, wenn wir gemeinsam handeln. Wer das verhindert, verhindert Lernen, verhindert Entwicklung. Aus pädagogischer Perspektive ist es wichtig, die Gegensätze in wertschätzender Kommunikation zu verknüpfen.
Also kann man auch heute als Lehrperson das Erleben der Kinder in den Ferien zum Thema machen. Schließlich haben sich die Mitglieder der Lerngruppe zwei Wochen lang nicht gesehen. Jede*r hat in der Zeit etwas erlebt, das für die anderen interessant sein kann. Der Auftrag könnte lauten: „Stelle ein Erlebnis in der Ferienzeit dar, das du deiner Klasse gerne erzählen möchte.“ Vielleicht das Erlebnis, das dich selbst am meisten beeindruckt hat?
Abwegig ist es dann allerdings, für die Qualität des Erlebnisses Zensuren zu verteilen. Gibt es dafür in den Richtlinien und Lehrplänen etwa Kriterien? Steht da irgendwo als Ziel: Die Schüler*innen lernen, in der Ferienzeit Reisen zu möglichst weit entfernten Zielen zu machen? Nein – das steht da nicht. Das ist in Corona-Zeiten auch nochmal ganz anders. Man könnte Bewertungskriterien entwickeln, aber es ist fraglich, ob das Ferienthema sich für eine derartige Beurteilung eignet.
Etwas Bedeutungsvolles für den Zusammenhalt der Gruppe entsteht vielmehr, wenn die Lehrperson dafür sorgt, dass jede*r jeden Text lesen und dazu ein Feedback geben kann. Das kann sie nach dem dramatischen Start in die Nutzung digitaler Kommunikationswerkzeuge heute erheblich besser als noch vor einem Jahr, selbst wenn, wie in NRW, die Schule erst mal in reinem Distanzunterricht startet. Die Coronakrise zeigt, wie wichtig die Störung gewohnheitsmäßiger Wirklichkeitskonstruktion ist – nicht nur bei Schüler*innen, sondern auch bei Lehrkräften. Ein eindrückliches Ferienerlebnis!