Eine Frage des Blickwinkels
Unser Schulentwicklungsberater hat ferngesehen. ARD-Brennpunkt! Nun ist er ein bisschen böse und möchte Ihnen sagen: Glauben Sie das nicht! Distanzunterricht ist wie Präsenzunterricht eine Frage der Einstellung. Wir brauchen schülerzentrierte Lernformen – hier wie dort.
Der Tenor der Sendung: „Distanzunterricht klappt nicht. Gerade die Bildungsfernen werden abgehängt. Daher müssen alle Schüler*innen dringend wieder zurück ins Schulhaus. Schule, du heile Bildungsanstalt, alle vermissen dich!“ Das wollte die ARD im Brennpunkt am Mittwoch nach dem Tagen der Bund-Länder-Kommission beweisen. Der Versuch ist komplett missglückt!
Gezeigt wurde eine Realschul-Lehrkraft. Inkognito, das Gesicht verpixelt, mit nachgesprochener Stimme. Angeblich, damit sie keinen Ärger mit ihrer Schulaufsicht bekommt. Das klassische Klischee: Eine Ohrfeige für jede engagiert arbeitende Beamtin in der Behörde, die die Lehrkraft für ihren Einsatz sicherlich gelobt hätte. Was soll das – ARD?
Andererseits war es gut, dass die Lehrperson unerkannt blieb, denn das Fernsehen hat sie übel vorgeführt. Offensichtlich kann diese Person das noch nicht, was im Moment von allen Lehrkräften im Land erwartet wird: Sich von heute auf morgen auf ein neues Umfeld des beruflichen Handelns einzustellen. Im Moment lernen deutsche Lehrer*innen digitales Unterrichten: Wie schaffen wir es, auf Distanz, die digitalen Kommunikationswerkzeuge so einzusetzen, dass sich die Schüler*innen freiwillig, aktiv und freudig einloggen?
Die Lehrperson im Brennpunkt-Beitrag ist hochengagiert. Sie berichtet von ihren vielfältigen Bemühungen. Deswegen braucht sie auch keine Angst vor der Schulaufsicht zu haben. Die ARD hat diese Person missbraucht. Wer sich so engagiert bemüht, hat 100 % Unterstützung verdient.
Unterstützung braucht sie, weil sie die neuen Formen ihres Handwerkes noch nicht beherrscht. Die Frage stellt sich allerdings: Wie kommt das?
Die naive, populistische Antwort der Brennpunkt-Redaktion ist: Weil es nicht geht, was die Lehrerin soll! Darum müssen wir so schnell wie möglich zurück zum Präsenzunterricht. Ich kann etwas nicht, also geht es nicht? Was ist das denn für eine lächerliche Argumentation. Wo bleibt da die Logik?
Tatsächlich gibt es im Leben Dinge, die nicht gehen. Aber den Beweis dafür erbringt man nicht, indem man zeigt, dass es jemanden gibt, der das nicht kann. Es gibt inzwischen Lehrpersonen, die auf Distanz unterrichten, ihre Lerngruppen bei der Stange halten und auch im Distanzlernen Lernzuwächse ihrer Schüler*innen auslösen. Warum zeigt die ARD nicht Beispiele dafür, dass auch Distanzlernen durchaus erfolgreich verlaufen kann? Dass wir uns Präsenzlernen trotzdem zurückwünschen, muss doch wohl nicht mit solchen Geht-nicht-Tricks bewiesen werden?
Wir treffen bei unserer Beratungsarbeit auf viele Lehrkräfte, die gerade dabei sind zu lernen, wie es geht. Auf junge und auf alte Lehrer*innen, die sich darüber freuen, auch digital wieder in Kontakt zu ihren Schüler*innen zu kommen. Sogar und gerade an Schulen in herausfordernden Lagen! Solche Lehrpersonen erwerben jetzt in der Krise einen neuen, erweiterten Blick darauf, was in einem lernenden Kind vorgeht und wo es bei der Kommunikation zwischen Elternhäusern und Schule hakt!
Die Lehrerkraft im Brennpunkt-Beitrag ist frustriert, weil sie es nicht schafft, all die Kinder morgens anzurufen, die zu Beginn der Videokonferenz der Klasse am Anfang der 1. Stunde noch nicht wach sind. Klar – solche Kinder gibt es. Vor allem da, wo auch die Eltern noch im Bett liegen! Was ist zu tun? Es wäre gut, wenn sie jemand um 7.30 Uhr schon mal anruft. Allein deshalb, damit sie schon ein bisschen gesprochen haben und warm geworden sind. Das passiert ja auch im Präsenzunterricht, im Schulbus, auf dem Schulhof und in der Klasse, bevor die Lehrperson kommt und der Unterricht beginnt. Also ist es schlau, die Videokonferenz schon 15 Minuten früher zu öffnen (Grundschulen nennen das offenen Anfang), damit das Bedürfnis der Kinder nach Kontakt, nach Gesprächen Raum hat. Das lockt vielleicht schon mal den einen oder anderen Schläfer aus dem Bett.
Trotzdem werden einige wenige Kinder sich so nicht ködern lassen. Da wäre es wirklich gut, wenn sie einen Anruf bekämen. Das begreift auch die Lehrkraft im Brennpunkt-Beitrag. Falsch ist aber ihr Schluss, sie selbst müsse alle diese Kinder abtelefonieren. Das kann sie auch beim besten Willen nicht schaffen – wie sollte das gehen? Sie muss also lernen, Alternativen zu finden. Sonst verfällt sie in Verzweiflung – wie im Brennpunkt gezeigt.
Bitte gehen Sie gedanklich einmal zurück in die Zeit, als Sie selbst noch Schüler*in waren. Waren Sie auf der Realschule? Was hätten Ihre Eltern wohl gedacht, wenn Ihre Lehrerin zuhause angerufen hätte? Das ist auch heute noch so wie damals: Ein Anruf der Lehrperson bei den Eltern zeigt den worst case an – fast so, als melde sich die Staatsanwaltschaft. Gerade, aber nicht nur, bei bildungsfernen Familien.
Also sorgt eine pädagogisch denkende Lehrperson dafür, dass notwendige morgendliche Anrufe von Mitschüler*innen kommen. Lernen erfolgt, so sagt die Pädagogik, vor allem im Peer-Group-Verband. Also aktiviert eine pädagogisch geschulte Lehrperson ihre Lerngruppe, die Kids, die sich schwertun, in den digitalen Unterricht zu kommen, ihre Hemmungen zu überwinden!
Das ist doch eigentlich eine pädagogische Binsenweisheit! Wieso kommt die von der Brennpunkt-Redaktion präsentierte Lehrperson nicht auf die Idee? Wir sagen: Weil schülerzentriertes pädagogische Denken in der Schule, in der sie arbeitet, noch nicht implementiert ist. Es gibt immer noch viele Schulen in Deutschland, in denen die Lehrpersonen glauben, sie seien diejenigen, die das Lernen von Kindern und Jugendlichen antreiben. Tatsächlich treiben sie mit dieser Haltung oftmals unsere Kinder und Jugendlichen aus der Schule und aus dem aktiven Lernen hinaus. Das passiert genauso im Präsenzunterricht wie beim Distanzlernen. Im Distanzunterricht wird es sichtbarer. Also – alles zurück ins Schulhaus?
Schulen können lernen, es grundsätzlich besser zu machen. Die Home-Schooling-Periode liefert den dringend erforderlichen Impuls. Stellen wir endlich unser deutsches Schulwesen auf schülerzentrierte Lernformen um!