18 Aug

Liveunterricht und alles gut – Wirklich?

Die Infektionszahlen steigen. Alle Welt redet von der zweiten Welle. Noch ein Lockdown – Horrorvorstellung! Die Angst wächst, dass die alte Normalität auf Dauer verschwindet. Na und?

Einer der jetzt häufig zitierten pädagogischen Glaubenssätze ist die Beschwörung der Live-Konstellation beim Lernen in der Schule. Ist denn wirklich alles gut, wenn die Schüler*innen ihre Lehrperson live im Klassenraum erleben?

Hat die Schule vor der Corona-Krise so super funktioniert, weil Lernende ihre Lehrkraft nicht nur mit den Augen und Ohren, sondern mit allen Sinnen wahrnehmen konnten – Parfum und Mundgeruch eingeschlossen?

Die Pädagogik lehrt, dass Objektpermanenz eine der sehr frühen Errungenschaften der kindlichen Entwicklung ist. Schon Kleinkinder wissen, dass ihre Mutter und ihr Vater weiter existieren und ihnen gegenüber die Rolle von Mutter und Vater einnehmen, auch wenn sie ihre Bezugspersonen eine Zeitlang nicht sehen. Schon Kleinkinder internalisieren, dass nicht nur die materielle, sondern auch die soziale Welt weiter existiert, auch wenn die direkte räumliche Beziehung aufgelöst ist.

So ist das bei älteren Kindern auch in Bezug auf ihre Lehrer*innen. Tatsächlich ist mir mein Mathelehrer auch nach 50 Jahren noch präsent. Ich konsultiere ihn nicht mehr, weil ich das, was ich von ihm gelernt habe, nun selbst kann. Aber er ist immer noch meine Vertrauensperson aus meinem Schüler- und in meinem Lehrerleben. Sein Bild ist in mir lebendig, sein von mir erlebtes Können strömt durch mich hindurch und fließt durch mich der nächsten Generation von Schüler*innen und Lehrer*innen zu.

Wann gelingt personale Entwicklung? Dann, wenn Kinder und Jugendliche konstruktive Abbilder der mit dem Anregen von Lernprozessen beauftragten Menschen – z.B. Lehrer*innen – in ihrem Inneren so abbilden, dass diese inneren Lehrpersonen ihr Lernen gut begleiten. Im Lockdown wird deutlich, dass das in unserer traditionellen Schule vielfach nicht gut gelingt. Da, wo Schüler*innen beim Distanzlernen hinter dem Horizont abtauchen, ist vorher der Aufbau einer produktiven Bindung zwischen Lernenden und deren Lehrpersonen nicht geglückt. Wollen wir ernsthaft zurück in genau diese Welt der Schule?

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, aus der Entwicklung in der Krisenzeit zu lernen. Fragen wir doch die Kids! Diejenigen, die auch aus der Ferne, unter reduziertem räumlichen Kontakt, einen guten Bezug zu ihren Lernpersonen gehalten haben! Vor allem mental, also in deren eigener Vorstellung von gelingendem Lernen? Denen ihr Mathelehrer so im Bewusstsein geblieben ist, dass sie, gedanklich von ihm angeregt, in ihrem Lernprozess weitergekommen sind?

Was ist vorher im Präsenzunterricht solcher Schulen geschehen, so dass die Bindung tragfähig geblieben ist? Was haben dort die Lehrkräfte richtig gemacht? Wie haben sie die soziale Beziehung zu ihren Lerngruppen gestaltet, dass auch die Distanz die Beziehung nicht beschädigen konnte? Ist das wirklich eine Funktion der räumlichen Nähe oder sind andere Faktoren wirksam? Gibt es raffinierte Strategien, vielleicht Haltungen, die andere Lehrpersonen lernen könnten, die leider nicht so erfolgreich im Erzeugen von lernwirksamer Bindung waren?

Wir wagen mal die These: Die räumliche Nähe beim Lernen ist nicht die entscheidende Größe! Klar: Ganz ohne Live-Kontakte wird es wohl nicht gehen. Doch muss Lernstreben ja nicht nachlassen, wenn die Lernenden die Enge des Schulhauses verlassen und die ganze Welt zu ihrem Lernraum machen! Zeitweilige Distanz kann sogar beleben – deshalb muss der soziale Bezug einer Gruppe doch nicht auseinanderbrechen.

Was ist der eigentliche Kitt, der eine erfolgreiche Lerngruppe zusammenhält und zum gelingenden Kompetenzaufbau in kooperativen Lernformen führt? Das müssen wir erkunden, um dem Virus auf Dauer ein Schnippchen zu schlagen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert