20 Nov

Winterhoff im SPIEGEL: Ist die Personalisierung von Problemen Teil des Problems?

Handpuppe: Hexe (Uzbekistan)

„Ich verstehe nicht,“ zitiert der SPIEGEL von dieser Woche (Ausgabe 13.11.2021) ein 16-jähriges Mädchen, „dass der Winterhoff die ganze Zeit damit durchgekommen ist.“ Die Illustrierte ergänzt: „Niemand versteht es“ (S. 57). Wir fragen: Vielleicht doch? Braucht es einen anderen Ansatz als Schuldigen-Suche, sondern eher einen Schutzraum zur Entwicklung gemeinsamer Verantwortung? Unser Vorschlag für einen Kulturwandel bei den Trägern der Jugendhilfe.

Eine 16-jährige mag wirklich noch nicht verstehen, wie unser System der Jugendhilfe Skandale wie die Auslieferung von Schutzbefohlenen an „Psycho-Experten“ vom Typ Winterhoff produzieren kann. Die Schreibenden des bekannten Politik-Magazins müssten es eigentlich verstehen. Vielleicht wollen sie darüber aber lieber nicht schreiben? Zudem stecken sie in derselben Kalamität wie die ARD-Redakteure, die „und wir Medien haben ihn groß gemacht“ bekennen. „Groß machen“ funktionierte in diesem Fall, weil ein gesellschaftliches Bedürfnis, Behördenstrukturen und personalisierbare Sensation („Erziehungskatastrophe“) zusammenpassten.

Soll nun mit denselben Mitteln, nämlich Skandalisierung einer Person, einer wieder „klein gemacht“ werden? Das ist uns einfach zu einfach! Wenn am Ende dieses Prozesses Winterhoff „entthront“ würde, wäre das auch in Bezug auf seinen Einfluss in der Schulpädagogik sehr wünschenswert. Was aber als ungelöster Knoten liegenbliebe, wäre die Gemengelage aus Sehnsucht nach einfachen Lösungen, Behördenhierarchien, die den einzelnen aus seiner Verantwortung zu entlassen scheinen und Nicht-Gehört-Werden von Hilfebedürftigen.

Nein, wir haben keine Sympathien für Herrn Winterhoff. Der Mann tut offenbar, was er aus seiner Sicht für richtig befindet und wird dabei nicht von anderen korrigiert, die es besser wissen oder doch besser wissen könnten. Die Auswirkungen sind schrecklich, das Leid der Betroffenen ist unermesslich. Das prangert der SPIEGELzu Recht an – vielleicht ein wenig sensationslüstern? Wie Winterhoffs Agieren unsere Lehrkräfte verunsichert, erklärt unser Blog-Beitrag am 13.8.21. Wie mögen sich die Verantwortlichen im System der Jugendhilfe fühlen, die hier der Mittäterschaft überführt werden?

Aus einer inneren Logik heraus ist Verständnis und Differenzieren im Mainstream-Journalismus nicht so gefragt. Wer zu verstehen versucht, gerät viel zu leicht in den Verdacht, das betrachtete Verhalten entschuldigen zu wollen. Wer verstehen will, wie schlimmes Handeln entsteht, muss sich hüten, als Sympathisant verunglimpft zu werden. Dieser Rigorismus ist ja gerade an vielen Stellen unterwegs.

Die Idee des SPIEGELs, das Problem durch Delegation von Aufsicht an Dritte lösen zu wollen, ist untauglich. Aufsicht muss es geben – ja. Das wusste schon Aristoteles. Struktur erzieht war sein Credo. Im Kopf zu haben: „Wenn es dumm läuft, kommt im Zweifelsfall die Aufsicht und zieht mich am Ohr“, bewegt Menschen, – so lehrte schon KANT – bei Problemen nicht der ersten spontanen Eingebung oder dem Trott der sie umgebenden Organisation zu folgen, sondern selbst noch mal nachzudenken, ob es nicht Alterativen gibt. Das ist mühsam, führt aber oft zu guter Problemlösung. Diese ist jedoch nicht Ergebnis der Aufsicht, sondern wächst, wo Menschen interagieren, die die Problemlage verstehen.   

Der Skandal ist das Wie, mit dem in Teilen der Jugendhilfe mit den Klienten umgegangen wurde und wird. Der Aufdeckung folgt dieselbe populäre Strategie, wie sie der SPIEGEL anwendet: Probleme werden personalisiert. Wenn es – im sozialen Kontext – zu Schwierigkeiten kommt, versuchen alle Beteiligten, einen Mit-Täter zum Verantwortlichen abzustempeln und zu reglementieren. Dieses Muster bringt der Pädagoge SCHAFFNER im Titel seines Konfliktratgebers für Lehrkräfte auf den Punkt: „Einer von uns beiden muss sich ändern und mit dir fangen wir an“ (1).

Dieses Muster des Umgangs mit Konflikten durchseucht an vielen Stellen unsere Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Statt ein Problem als änderungswürdige Interaktion zwischen Menschen in sozialer Beziehung zu betrachten, wird ein Schuldiger gesucht und skandalisiert. Man muss diese Person dann nur lange genug beschimpfen, herabwürdigen, bestrafen oder aus dem sozialen Kontext verbannen. Dann wird alles besser… Leider gar nicht wahr!Der SPIEGEL mischt mit seinem Beitrag an vorderster Front mit: Diese Woche wird Herr Winterhoff skandalisiert. Mal ketzerisch gefragt: Hat der Mann nicht recht, wenn er sagt, dass sich Kinder manchmal tyrannisch in ihrem Umfeld bewegen? Und dass manche Eltern zulassen, dass ihre Kinder, das Motto von SCHAFFNER umdrehen und bei Konflikten versuchen, ihre Eltern ihren Wünschen anzupassen? Solche kindliche Konfliktlösestrategie ist genauso schädlich wie ihr Gegenteil: Wenn Eltern darum kämpfen, das Kind so zu ändern, wie die Eltern es gerne hätten.

WINTERHOFF gibt allerdings auf das von ihm beobachtete Phänomen die falsche Antwort. Er verstärkt die Personalisierung des Problems auf das Kind – eine Vorgehensweise, die auch schon früher nicht erfolgreich war. Er ist bei der Debatte über gute Erziehungspraxis ein schlechter Ratgeber! Denn bei Konflikten ist es sinnvoller, dass beide Konfliktseiten dialogisch im Kontext eine Problemlösung suchen, die für beide Seiten trägt. Bei dieser Suche sind Kind und Eltern als Personen auf Augenhöhe und altersangemessen gleichberechtigt, haben aber im Kontext unterschiedliche Funktionen. Eine gute Konfliktlösung erkennt einerseits die personale Gleichheit und andererseits die funktionale Unterschiedlichkeit der Personen im Kontext an. Ob Medikamente dabei helfen, sie dialogisch zu finden, indem sie die Beteiligten gefügiger macht, wie WINTERHOFF behauptet? Die Psychiatrie sieht ein solches Verfahren wohl eher in Ausnahmesituationen extremer Erregtheit und als kurzzeitige Hilfe für den Patienten vor, nicht aber als therapeutische Dauerlösung.

Versuchen wir doch auch, die Einrichtungen der Jugendhilfe zu verstehen. Möglicherweise herrscht in den Ämtern verschärft das von SCHAFFNER karikierte Prinzip. Wird ein Skandal – wie das Machen-Lassen von Therapeuten wie WINTERHOFF – ruchbar, so fragt dort kaum jemand: „Wie konnte es dazu kommen, dass die Sach-Bearbeitenden diese menschenfeindliche Praxis der Heimerziehung ignoriert, ja sogar unterstützt haben?“ Es beginnt vielleicht eher die Suche nach den Schuldigen. Wer länger im System arbeitet, kennt die Scharaden, Verantwortung jemand anderem zuzuschieben. Sind dabei alle Beteiligte fit, also gute Bürokraten, und tappen nicht in die Falle, sich als Schuldiger zu outen, so sollte man – so folgert der SPIEGEL – dafür eine weitere Instanz namens Aufsicht einrichten. Und wenn auch diese Aufsicht fit ist und es schafft, alle Verantwortung von sich zu weisen, lieber SPIEGEL, was dann?

Unserer Meinung nach sind alle Beteiligen zugleich verantwortlich – einige haben ja auch durchaus diese Verantwortung gezeigt – jeder für das, was er getan oder unterlassen hat. In Ämtern braucht es keine neue Aufsicht – die gibt’s schon – sondern einen Schutzraum in der Zerreißprobe, in die alle Sach-Bearbeitenden kommen, sobald sie ahnen, dass sie an inhumaner Praxis beteiligt sind. Sie brauchen Kolleg*innen, mit denen sie über solche Nöte sprechen und gemeinsam auf Abhilfe sinnen können. Sie brauchen Vorgesetzte, die in dem Moment, in dem ihnen Missstände in der Arbeit der Abteilung zu Ohren kommen, die Verantwortung für die Lösung der Probleme – zusammen mit ihren Leuten – übernehmen. In dieser Hinsicht brauchen wir einen Kulturwandel bei den Trägern der Jugendhilfe: eine selbstkritische innere Entwicklung der Handlungsmuster, mit denen die Behörde ihre Aufgaben wahrnimmt, dazu braucht man keine Sündenböcke. Aber die Jugendhilfe könnte externe Unterstützende und Kooperationspartner*innen hinzuziehen, die sich entsprechenden Entwicklungskonzepten ebenso verpflichtet fühlen.Das kann dann wohl nicht Herr Winterhoff sein, es sei denn, er entpuppt sich als lernfähig.

(1) Schaffner, „Einer von uns beiden muss sich ändern und mit dir fangen wir an“, Ein Konfliktratgeber für Lehrerinnen und Lehrer, Hohengehren: Schneider Verlag. 2020, ISBN 978-3-8340-2083-3

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