Schule ist keine Insel
Jetzt mal grundsätzlich…
Unser Blog Pädagogik der Gegenwart reflektiert zeitnah, was Bildungsinstitutionen heute umtreibt, ihre Pädagogen beschäftigt, ihre Kunden beschwert oder beglückt. Dabei ist uns auch wichtig, den der Blick über den Tellerrand der Tagespädagogik zu tun, innezuhalten und auf unseren Kontext zu schauen, heute mit ein paar grundsätzlichen Gedanken von Oskar Negt.
Keine Frage: Schule vermittelt Bildung und steht somit im Zentrum der Gesellschaft. Das zeigt sich gerade mal wieder in der Krise. Schule ist – und war es immer – nicht nur eine Viren-und-Bakterien-Gemeinschaft, sondern ein Subsystem der Gesellschaft, vielfältig mit den anderen Teilen der Welt verflochten. Eine Insel?
Wir, die Mitwirkenden des Instituts für pädagogische Beratung (IfpB), sehen uns als professionelle Lerngemeinschaft. Gemeinsam entwickeln wir uns weiter bei unserer Arbeit im Maschinenraum der Pädagogik, wo Menschen daran arbeiten, Bildungsprozesse zu stiften. Gemeinsam ist uns der hohe Respekt vor den Nestoren unserer Zunft. Wir haben in unserer Republik ausstrahlungsstarke pädagogische Persönlichkeiten. Die Namen sind mit der Entwicklung von Leuchtturm-Schulen untrennbar verknüpft: Klaus Tillmann, emeritierter Professor an der Uni Bielefeld, mit der dortigen Laborschule; Dietrich Benner, zu seiner Zeit als Professor an der Uni in Münster als Ideengeber der Wartburgschule als Prototyp der gebundenen Ganztags-Grundschule.
Besonders beeindruckt in der Riege der Nestoren der Pädagogik wohl Oskar Negt als Vater der Glocksee-Schule in Hannover – auch ein Schulprojekt, dem es über die Jahre gelungen ist, sein reformpädagogisches Konzept gegenüber dem Mainstream der jeweiligen Landes-Schulpolitik zu bewahren. Sind solche Schulen, geschützt durch pädagogische Autoritäten, vielleicht doch Inseln in der Bildungslandschaft der Republik?
Oskar Negt hat bei einer Tagung in Wien die These aufgestellt: Schule ist keine Insel. Das Video (https://www.youtube.com/watch?v=sevIm_E0h6E) ist auch in den Zeiten der Corona-Krise brandaktuell. Schule ist, so Negt, der Raum, der den drei großen Irrtümern der um sich greifenden „betriebswirtschaftlich beschädigten Vernunft“ entgegenwirken sollte: Der Entwertung von Erinnerung, Bindung und Erfahrung. Diese Entwertung, bewirkt durch die vorgebliche schöpferische Zerstörung als Wirkprinzip der kapitalistischen Ökonomie, zerstört die sozialen Werte der Republik, der gemeinsamen Sache der Gesellschaft.
Mit schütterer Stimme und ergreifenden Worten erklärt Negt, worauf es bei der Gestaltung des Lernraumes Schule ankommt: Demokratie zu leben muss man lernen! Dazu braucht es Erziehung, die in geeigneten Lernräumen stattfindet. Populistische Polarisierung ist wirkmächtig, weil sie an die niederen Instinkte des individuellen Egoismus‘ appelliert. Schule sollte dazu das Gegenmodell sein: Der Raum, in dem junge Menschen Selbstkompetenzen entwickeln können. Identitätskompetenz, Technologiekompetenz, Gesellschaftskompetenz sind die drei zentralen Fähigkeiten, die Negt benennt. Die Integration der drei Kompetenzbereiche könnte man Autonomie-Kompetenz nennen, also die Fähigkeit, die individuelle Autonomie in einer Welt zu leben, die durch Erinnerung, Bindung und Erfahrung bestimmt ist.
Der Kompetenzbegriff wird derzeit oft aus der Sicht der betriebswirtschaftlich beschädigten Vernunft als Verfügungswissen und nicht als emanzipatorisches Wissen interpretiert! Kompetenz ist aber die Fähigkeit zur Entwicklung konkreter Utopien in einer kranken polarisierten Gesellschaft, die Phantasie eines Lebens in einer Welt, die achtsam mit sich umgeht. Um so etwas zu lernen, ist es nicht verkehrt, eine Schule nach dem Modell einer Insel zu gestalten. Dort besteht Unterscheidbarkeit zwischen hier und dort. Grenz-Erleben und zeitweilige Kontrastierungen aus solchen Inseln sind Mittel des Lernens, nicht aber Trockenübungen der gesellschaftlichen Spaltung.
Denn Lernen gelingt ohne zeitweilige Polarisierung nicht. Konstruktivistisch denkende Pädagoginnen und Pädagogen bezeichnen die Störung der Harmonie als Auslöser des Strebens nach besseren Lösungen. Wenn dabei in der Gegenwart Reibung entsteht und spürbar wird, so ist das eine positive Begleit-Emotion auf dem Weg in eine gute Zukunft. Dafür braucht es geschützte Räume. Entscheidend ist aber, wohin es geht: Als gute Lösung, als Utopie, dient das Leitbild einer Welt, in der alle Menschen ihre Autonomie in sozialer Bindung leben können. Die einzelne Schule mag sich zeitweise als Insel aufstellen, auf lange Sicht sind Schulen jedoch in der Tat keine Inseln!
Negt weist uns Aktiven im Maschinenraum der Pädagogik die Richtung und nimmt uns in die Verantwortung. Wir arbeiten für die Sicherung von Erinnerung, Bindung und Erfahrung in einer Welt, die zunehmend die Notwendigkeit erzeugt, anders handeln zu lernen. Danke, Oskar Negt!
Schenken Sie sich die Muße, dieses Video in Ruhe anzuschauen. Sie verlieren keinesfalls eine gute halbe Stunde ihres Lebens, sondern gewinnen die „Erdung“ Ihrer pädagogischen Gedanken: