Krisen-Handeln unter Zeitdruck
Bleiben Partizipation und Demokratie auf der Strecke?
Das Problem
In der Krise bestimmt die Verwaltung – das ist wohl unvermeidlich. Oberstes Gebot ist es, rasch und präzise zu handeln. Wo bleibt da die Beteiligung der Betroffenen, wo die demokratischen Grundprinzipien? Der Bundestag debattiert darüber – absolut zu Recht. Auch bei der inneren Entwicklung der Schulen im Lande stellt sich das Problem. Leute, seid wachsam! Gerade in der Krise gilt es, die Kultur der Partizipation nicht zu schwächen, sondern zu stärken!
Das Beispiel
In der Schule X in Stadt Y in NRW kämpft Schulleiter Z (zum Schutz der Betroffenen hier keine Namen) mit dem Problem, zwischen Bildungsauftrag seiner Schule und den Hygienebestimmungen der Coronakrise die zeitweise Rückkehr von Lerngruppen in das Schulhaus zu organisieren. Von Schulaufsicht und Schulträger kommen spärliche Anweisungen. Wie soll es auch anders sein? Das Agieren wird ja von den Erkenntnissen zur Verbreitung des Virus bestimmt, die niemand exakt vorhersagen kann. Politik handelt überlegt, wenn sie sich am gegebenen Zeittakt des naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zum Krisenverlauf orientiert.
Schulleiter Z leitet eine Schule, die ein pädagogisches Profil hat und sich dadurch vom Regelfall dieser Schulform unterscheidet. Diese Lehranstalt ist in einem partizipativen Prozess zu der Qualitätsschule geworden, die sie nun ist. Elternbeteiligung, Mitbestimmung der Lernenden, Verankerung im politischen Leben des Schulumfeldes sind die Triebkräfte, die die Schule zu dem gemacht haben, was sie ist. Die die Schule pädagogisch Gestaltenden sind es gewohnt, sich zu beteiligen, gehört zu werden und mitzuentscheiden.
Also erarbeitet Schulleiter Z mit seinem Leitungsteam Lösungen, wie sich die durch die Schulaufsicht gesetzten Rahmungen mit dem Konzept der Schule verknüpfen lassen. Die Lösungen sind darauf abgestimmt, dass im Laufe der nächsten Wochen nach und nach alle Lerngruppen wieder in die Schule kommen werden, jedoch nur zeitweise. Niemand weiß, wie dazu die genauen rechtlichen Vorgaben sein werden – aus den oben genannten Gründen. Das Leitungsteam favorisiert eine der möglichen Lösungen und kann das mit triftigen Gründen belegen. Nun muss entscheiden werden.
Schulleiter Z informiert also Kollegium und Elternschaft über die Überlegungen der Leitung. Er nennt die erörterten Lösungen und schlägt vor, die zu wählen, die sein Leitungsteam für bestmöglichst hält. Er lädt den Dringlichkeitsausschuss der Schulkonferenz ein. Nach der NRW-Schulverfassung ist die Schulkonferenz das oberste Entscheidungsgremium der Schule, der Dringlichkeitsausschuss entscheidet vorläufig, wenn keine reguläre Sitzung des Gremiums stattfinden kann.
Schulleiter Z berichtet davon seinem schulfachlichen Dezernenten S bei der Schulaufsicht. Dieser kritisiert Herrn Z: „Sie dürfen keinesfalls den Dringlichkeitsausschuss über etwas entscheiden lassen, was das Ministerium für Schule des Landes NRW festgesetzt hat.“ Dann: Funkstille.
Die Struktur
Was passiert hier? Schulleiter Z handelt im Sinne der Grundsätze innerschulischer Mitwirkung vorbildlich. Genau das, was er tut, entspricht einer demokratischen partizipativen Struktur: Er sorgt für Lösungen, benennt die möglichen Alternativen, informiert die Betroffenen und will eine Entscheidung unter Nutzung der definierten Struktur demokratischer Willensbildung in Schulen herbeiführen. Die Schulaufsicht kritisiert ihn dafür. Würde Schulleiter Z der Botschaft seines Vorgesetzten S folgen, so würde er gegen die Kultur der Partizipation seiner Schule handeln. Er wäre also mitschuldig, wenn nach der Krise diese Kultur beschädigt wäre.
Hier passiert genau das, wovor politisch Wachsame im Bundestag warnen. Es droht, dass sich die hierarchisch orientierte Behördenstruktur mit der Tradition von Weisung und Weisungsbefolgung gegen demokratische Prinzipien durchsetzt. Schulleiter Z ist in seinem Urteil selbstsicher und fürchtet die Behörde nicht. Er handelt verantwortlich, setzt sich über die Weisung des Vorgesetzten S hinweg und beteiligt, wie geplant, die Schulkonferenz. Aber wenn er den Mut dazu nicht hätte? Was dann?
Die Konsequenz
Wir Aktiven im IfpB legen den Finger in die Wunde. Wehret den Anfängen! Wir glauben nicht, dass der Beamte der Schulaufsicht absichtlich demokratische Prinzipien über Bord werfen will. Hier eine Verschwörung am Werke zu sehen, halten wir für Unfug. Aus pädagogischer Perspektive aber kritisieren wir die Äußerung des Schulaufsichtsbeamten S wegen deren langfristiger Wirkung. Auch wenn wir seine Handlungsmotive nachvollziehen und Sympathie für ihn empfinden, steckt doch eine Gefahr in der schnellen Anwendung des Hierarchieverweises. Es sollte nicht so sein, dass demokratische Strukturen mit Mut zum Ungehorsam verteidigt werden müssen.
Tatsächlich ist es in der Krise ein großes Problem, die chaotische Diskussion auf allen Kanälen zu überschauen. Daher glaubt Herr S, dass er richtig handelt, wenn er paternalistisch agiert. Schulleiter Z soll in seiner Schule die Weisungen des Ministeriums umsetzen und nicht die Menschen in der Krise durch demokratische Diskussionen vom Arbeiten abhalten. Ursächlich für das Problem ist aber auch, dass die Weisungen des Ministeriums nicht so eindeutig sind, dass sie die Praxis direkt bestimmen können (auch wenn Herr S das glauben mag). Alle vom Schulleitungsteam entworfenen Lösungsvarianten fußen auf den Weisungen des Ministerium – gehen aber perspektivisch weiter. Also bindet Schulleiter Z die Beteiligten in die Erörterung ein, wie die potentielle Zukunft zu gestalten ist.
Die Einordnung
Demokratie wirkt oft schwerfällig, weil sie mit dem Potential der Betroffenen arbeitet. Das dauert, weil mit Prozeduren gearbeitet wird, die die Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen sichern. Viele Menschen sind ungeduldig, sie wollen schnelle Lösungen. Das ist gut zu verstehen. Traditionen von Befehl und Gehorsam erscheinen dann verlockend. Das ist eine Gefahr, mindestens genauso groß wie der Virus: Schleichend setzt sich in den Köpfen der Menschen der irrige Gedanke fest, Befehl und Gehorsam sei wirksamer als Partizipation.
In bestimmten Situationen stimmt das sogar: Wenn die Feuerwehr ein Schadfeuer bekämpft, bestimmt die Kommandantin das Handeln des Löschzugs. Aber vorher und hinterher hat die Truppe ausgiebig trainiert, beraten, evaluiert. Dabei sind alle Beteiligten eingebunden, wenn es eine wirksame Feuerwehrgruppe ist. Über Partizipation und Mitbestimmung wirkt die Schwarmintelligenz – auch bei der Feuerwehr!
Wir brauchen in der Krise rasches partizipatives Handeln. Instanzenwege können tatsächlich nicht immer eingehalten werden. Aber deren Sinn kann gewahrt bleiben. Hier ist die Kreativität der und gelegentlich auch der Mut (s. Beispiel) der Menschen gefragt. Hier zeigt sich, ob sie von der Wichtigkeit der Partizipation überzeugt sind – so wie es der Grundgedanke der Demokratie ist. Im Handeln zeigt sich die Haltung, sowohl bei Herrn Z als auch bei Herrn S. Jetzt gerade kann jeder lernen, partizipativ zu wirken. Das weckt die Bereitschaft möglichst vieler Menschen, sich mit ganzem Herzen einzubringen.
Die Chance
Die Schule ist die Schule der Nation, das Haus des Lernens. Es ist jetzt gerade dezentralisiert: Distanzlernen für alle. Vielleicht werden wir später sagen: Gut, dass wir das erleben durften. Jetzt gerade kann partizipatives Denken wachsen. Dabei lernen alle, Herr Z, Herr S und wir, neue Formen kennen und lieben!
Dr. Robert Wunsch, Dr. Michael Wildt, Momo Monecke