14 Jan

Schule bei Inzidenz über 1000

Viel Glück und Geschick wünschen wir allen Schulen – und besonders denen in herausfordernder Lage!

„Wir wollen die Schulen aus sozialen Gründen offenlassen!“, verkünden die Politiker als Lehre aus den Erfahrungen der Lockdowns der letzten zwei Jahre. Bringt es das? Der Tagesbefehl müsste doch lauten: „Schulen, lasst die sozialen Kontakte der Lerngruppen nicht zerreißen!“ Wer glaubt, das geht nur in Präsenz, der hat die Möglichkeiten und Veränderungen der letzten Jahre nicht mitbekommen!

Unsere Beratungsperson traf sich in diesen Tagen mit der – anzahlmäßig coronabedingt gerupften –Schulentwicklungsgruppe einer in Gesamtschulform arbeitenden Schule mit einem Umfeld, in dem die Inzidenz über 1000 liegt. Megathema ist die Zahl der Krankmeldungen, Corona-Infekte und Quarantänefälle in den Klassen und Lehrerteams. An einen stabilen Unterrichtsbetrieb ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Hier herrscht gefühlt eine Art Endzeitstimmung, fast wie in einer Truppe unter Granatenbeschuss. Lernende und Lehrende huschen, mit Maske und auf Distanz bedacht, durch die Gänge und verkrümeln sich in den Klassenräumen.

Ziel der Gruppe ist, an der Schule selbstorganisierte Lernformen in allen Jahrgängen voranzutreiben: SOL. Daran arbeitet das Kollegium dieser engagierten Schule schon seit mehreren Jahren. Das notwendige Know-How hat sie schon vor Corona durch systematische Beteiligung an Fortbildungsvorhaben und durch Entwicklung der Teamarbeit vorangetrieben. „Jetzt zeigt sich, wie wertvoll unsere Investitionen in die die Fähigkeit unserer Schüler*innen zur Selbstorganisation sind!“ erklärt ein Mitglied der Gruppe. „Die Lerngruppen, die das umgesetzt haben, arbeiten weiter zusammen, ob sie zu Hause oder in der Schule sind. Die Kids haben gelernt, sich zu verabreden und zu kooperieren. Wenn sie wollen, so nutzen sie alle Kanäle, um in Kontakt zu kommen, und auch, um zusammen zu lernen!“

Nur die Kids? Das können auch ältere Menschen, wenn wollen! Wie als Beweis dieser Behauptung öffnet die Koordinations-Person der Schulentwicklungsgruppe die Mail eines Kollegen, der krisenbedingt nicht präsent sein kann, und liest vor: „Ich habe meine letzte Unterrichtseinheit zum Tanz als Sportart nach unserem SOL-Konzept gestaltet! Leute, ich bin krass glücklich! Die Schüler*innen haben total engagiert und erfolgreich gearbeitet…obwohl gefühlt immer nur die Hälfe der Gruppe da war. So eine Eindringtiefe in Aspekte der Thematik habe ich in meiner bisherigen Praxis noch nie erlebt. Die Schüler waren super und haben ihre Arbeiten total stark präsentiert. Und das in diesen heftigen Zeiten!“

Diese Wahrnehmung eint die Restgruppe des Entwicklungsteams im Raum. Wo Kolleg*innen sich darauf einlassen, die Dirigentenfunktion in der Lerngruppe aufzugeben und stattdessen systematisch schülerzentriertes und selbstorganisiertes Lernen anzubieten, zerfallen auch in der Corona-Krise nicht die sozialen Bindungen zwischen den Lernenden und zwischen Lernenden und Lehrpersonen. Selbst in der Krise können Lehrkräfte glücklich sein, weil Lerngruppen erfolgreich arbeiten!

Es geht auch ohne Präsenz. Auch wenn man sich per Medium und nicht live trifft, fließen die beim Lernen unverzichtbaren Emotionen, ergeben sich die 10% Smalltalk innerhalb der lernbezogenen Kommunikation als sozialer Kitt des schulischen Arbeitsprozesses. Menschen können, durch Medieneinsatz, auch auf Distanz Beziehungen halten und pflegen. Sie müssen es wollen, dann funktioniert es. Also muss die Schule nur dafür sorgen, dass alle, die dazu gehören, den Kontakt aufrechterhalten. So weit, so einfach! Aber?

Aber! Auch an dieser Schule macht das nur ein Teil des Kollegiums. Wahrscheinlich weiß inzwischen auch der letzte Kollege/die letzte Kollegin, es wäre sinnig, so zu arbeiten. Hier kann sich niemand mehr mit der Behauptung aus der Affäre ziehen, unter den miserablen Bedingungen dieser Schule sei schülerzentriertes und selbstorganisiertes Lernen nicht möglich. Denn es gibt ja Lehrkräfte an der Schule, die Tat für Tag mit ihrem Unterricht das Gegenteil beweisen. „Geht doch – probier‘s aus“ – das ist der dortige Entwicklungsstand.

Was ist zu tun, wenn sowohl die Einsicht da als auch der Handlungsdruck groß ist, das Lern- und Unterrichtsmuster der Schule auf breiter Ebene umzustellen? Das Hindernis ist, dass die Lehrkräfte mit dem alternativen Denken infiziert sind, es ihnen aber in der alltäglichen Praxis nicht gelingt, das eigene Handeln umzustellen. Die Gestaltung einer SOL-Lerneinheit ist arbeitsintensiv in der Phase der Planung. Die individuellen Gewinne stellen sich aber erst in der Phase der Durchführung ein. Die systemischen Gewinne stellen sich sogar erst ein, wenn das Kollegium bei der Produktion des Unterrichtsangebots systematisch kooperiert. Das geht nur bei einem individuellen und kollektiven Haltungswandel der Lehrkräfte: Das Einzelkämpferdasein aufgeben, Teamplayer in Fachgruppe und Jahrgangsgruppe werden, sich als echter Partner – mit allen Rechten und Pflichten – seiner Kolleg*innen auffassen!

Dazu bedarf es – jetzt kommt unsere Beratungsperson ins Spiel – sowohl ziehender als auch schiebender Elemente. Das kann wohl nur ein externer kritischer Freund oder eine externe kritische Freundin: In einer so depressionsgefährdeten Situation einer durch die Krise gerupften Gruppe dazu beitragen, dass in beiderlei Hinsicht eine mit der Inzidenzlage verträgliche Zuversicht wächst und in konkrete Planungsschritte übersetzt wird. Die Kollegenteams müssen einerseits motiviert, andererseits systematisch „mit den Köpfen zusammengesteckt“ werden. Dazu gibt es in großen Systemen vielfältige pragmatische Möglichkeiten – die kennen wir als pädagogische Beratungssituation, und auch die Strategien, wie sie sich in Schulen implementieren lassen. In der Erprobungsgruppe kommt Freude auf bei der Planung der nächsten Arbeitsschritte.

Die Debatte, ob Schulen inzidenzbedingt offengehalten bleiben oder geschlossen werden sollen, geht unserer Meinung nach in die falsche Richtung. Die Fragen lauten (das sollte auch die Politik fordern): „Wie halten wir die sozialen Bezüge trotz der Belastung am Leben? Und: Wie können wir alle Beteiligten zu Träger*innen des Zusammenhalts machen?“ Das ist gemeint mit „Selbstorganisierten Lernformen“: Stabilität und Resilienz durch Einbindung aller in die Verantwortung für gutes Gelingen des schulischen Lernens! Je höher die Inzidenzen, desto dringender wird die Ausprägung dieser Grundhaltung von Schule!

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