20 Jun

Zurück nach Badstraße

Wir brauchen eine Offensive: Stärkung der Fähigkeit zur Selbstorganisation der Lerngruppen.

Wer kennt sie nicht, die Ereigniskarte „Gehe zurück nach der Badstraße“? Das ist die Verlierer-Straße beim Monopoly, die einen weitest möglich vom Einziehen von 4000 Mark beim Gehen über Los wegbringt?

In NRW gehen seit einer Woche wieder alle Grundschulkinder ohne Distanzregel in ihre Lerngruppe. Einschließlich des nachmittäglichen Unterrichts im gebundenen Ganztag der jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Tina unterrichtet nachmittags in einem Doppeljahrgang erste/zweite Klasse. Sie stöhnt: „Jetzt sind zwar alle wieder da, aber alles,

was die Kinder zum kooperativen Arbeiten und zum sozialen Lernen vor der Corona-Zeit gelernt haben, ist wie weggewischt. Die Gruppe muss sich wieder ganz neu finden. Wir stehen am Ende des Schuljahres, aber ich fühle mich wie in der ersten Unterrichtswoche.“

Ja, das ist hammerhart. Die vielen nöckeligen Ichbezogenheiten, die in der pädagogischen Arbeit einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe Stück für Stück in gruppenbezogene Lernmuster verwandelt werden, feiern fröhliche Urstände. Ein halbes Jahr Erziehungsarbeit ist wie gelöscht. Eigentlich müssten die Erstklässler, die im nächsten Jahr Zweitklässler sind, die dann neuen Erstklässler entsprechend erziehen – das ist das JüL*-Konzept. Und die Zweitklässler, die in die neue Drei/Vier wechseln, treffen auch da auf Lerngruppen, die sich in gruppenbezogener Hinsicht beim Lockdown eher zurück- als voran-entwickelt haben.

Gerade merkt die Republik, dass in der Zeit des Lockdowns nicht nur die Umsätze in der Gastronomie eingebrochen sind. Gestern war es Gegenstand des ARD-Extra zur Conona-Lage: Der Verlust an Bildung während der Zeit des Distanzlernens wird die Kids womöglich ihr ganzes Leben lang beeinträchtigen. Wie kommt das? Wieso ist der Verlust von Bildung so schwer aufholbar?

Das liegt daran, dass – entgegen landläufiger Ansichten – Lernen nicht eine Frage des Erwerbs von Wissen, sondern des Aufbaus von Können ist. Wer immer noch glaubt, dass Lehrer*innen ihren Schüler*innen Wissen vermitteln, der ist der aktuellen Pädagogik um Jahrhunderte hinterher. Schon COMENIUS hat sich mit der Frage beschäftigt: „Wie bringe ich die jungen Menschen aus der Distanz der Lehrperson (ohne Annäherung an das lernende Kind) dazu, erfolgreich zu lernen?“ Die Distanz vom Katheder des Lehrers zum Pult des Schülers zu überwinden, so dass das Kind Können erwarb, war schon zu seiner Zeit die Herausforderung. Ob zwischen den beiden optischer oder elektronischer Sichtkontakt liegt, ist im Grund genommen zweitrangig. Das ist eine technische, nicht aber eine pädagogische Frage.

Heute wissen wir mehr: Es kommt auf die soziale Interaktion in der Lerngruppe an! Lehrer-Herausforderung ist, die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den lernenden Subjekten so zu stimulieren, dass diese sich wechselweise beim Aufbau individuellen Könnens unterstützen und motivieren. Die Kinder ziehen sich wechselweise weiter, eine schiebt, ein anderer zieht, dann tauschen sie die Rollen. Das ist Interaktion beim Lernen, die die vielen beim stabilen Kompetenzaufbau beteiligten Regionen der Gehirne der Lernenden stimuliert. Sie konstruieren ihr wissensbasiertes Können in der sozialen Gemeinsamkeit der Lerngruppe. Modern arbeitende Lehrkräfte unterrichten nicht einzelne Lernende, sondern Lerngruppen. Die Passung an die Verschiedenheit der lernenden Subjekte unterstützen sie durch die Vielfalt der Lernmöglichkeiten, die sie anbieten – derjenige, der lernt, wählt das kognitiv und sozial am besten passende Lernangebot und stürzt sich mit seinen Kumpels in das spannende Abenteuer des Lernens!

Dieser Prozess wird zweifelsohne ausgebremst, wenn sich die lernenden Subjekte plötzlich zu Hause und nicht in der Schule finden. Die Kumpels sind nun eben nicht mehr auf optische, sondern auf digitale Rufweite voneinander entfernt. Wir brauchen digitale Werkzeuge der lerngruppenspezifischen Kommunikation, nicht Lernprogramme – Lernen tut jeder selbst. Sondern Kommunikations-Tools – so dass man seine Kumpels auch trifft, ohne im gleichen Raum zu sein. Nicht immer, aber immer öfter. Denn heute ist die Welt nicht mehr, wie zu DEWEYs Zeiten, in Dörfer organisiert, sondern in globale Strukturen.

Niemand will Live-Kontakte beim Lernen abschaffen. Doch die Phantasie der Lehrpersonen von heute muss weiter gehen als bis zu den Wänden des Klassenraums. In der Klasse Eins/Zwei lernen die Kinder sich beim Lernen gemeinsam zu organisieren. Dort sind 3 Monate Einzel-Lernen (oder Lernen wie die Königskinder mit der Hauslehrerin Mama) tatsächlich 30 % der bisherigen schulischen Lernzeit. Ich verstehe also, dass Tina stöhnt. Hier stimmt leider das Bild von zurück zur Badstraße. In den nächsten Monaten müssen die Lehrpersonen also 30% mehr in das soziale Lernen investieren als bisher.

Aber in höheren Klassen und vor allem in den weiterführenden Schulen gilt das Stöhnen nicht mehr. Wenn die Kids in der Diaspora nicht geschafft haben, sich kooperativ von zu Hause aus zu organisieren, so liegt das daran, dass sie das Organisieren ihres gemeinsamen Lernens vorher nicht gelernt haben. Wenn, wie so oft geklagt wird, der Lernertrag der Distanzlernzeit zu wünschen übrig lässt, so liegt das daran, dass vorher der Unterricht nicht auf die Selbstorganisation beim Kompetenzerwerb der Schüler*innen ausgerichtet war.

Aber das muss ja nicht so bleiben! Im Herbst hoffen wir ja, dass – vor der Winter-Corona-Welle, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns zurollen wird – unsere Kinder und Jugendlichen ein paar Wochen alle zusammen lang in ihren Lerngruppen beschult werden können. Wir brauchen eine Offensive, diese Wochen zur Stärkung der Fähigkeit der Selbstorganisation der Lerngruppen zu nutzen. Die Werkzeuge sind in der Tat digital, aber die Fähigkeit der Selbstorganisation gehört in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler!

Dann ist die nächste Krise vielleicht ein Schritt zurück auf dem Monopoly-Feld, aber nicht gleich so weit zurück bis zur Badstraße! 

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