Gibt es aus pädagogischer Sicht einen Ausweg aus der Gewaltspirale?
Es fällt schwer, in diesen Tagen einen Beitrag für Pädagogik der Gegenwart zu schreiben, wenn unsere sorgenvollen Gedanken unaufhörlich in den Osten der Ukraine wandern.
Kann denn die Pädagogik irgendetwas beitragen, das nach einer möglichen Lösung auch nur riecht? Wie ist das denn auf dem Schulhof, wenn der Konflikt – längst eskaliert – von der Pausen-Aufsicht entdeckt wird?
Pädagogik ist die Wissenschaft davon, wie sich menschliche Beziehungen entwicklungsfördernd gestalten lassen. Sie geht davon aus, dass im Grunde genommen jeder, der menschliche Beziehung gestaltet, es aus einer inneren Sinnsicht tut. Jeder macht das, von dem er glaubt, dass es für alle Beteiligten das Beste ist, wenn er so agiert, wie er agiert. Nur die anderen sehen – leider – oft nicht ein, dass das, was dabei herauskommt, wirklich die beste aller Lösungen ist…
Aus dem Handeln lässt sich die Sinnsicht der agierenden Person rekonstruieren. Das ist Pädagogenhandwerk. Die Disziplin des Fachs verlangt, das zu tun, wenn man pädagogisch arbeiten will, bevor man Vorschläge für bessere Lösungen macht. Eine professionelle pädagogische Haltung schließt nicht nur den Schutz des Schwächeren, sondern auch das Nachdenken über die Genese des Verhaltens des Aggressors ein. Ganz zu schweigen von der großen Aufgabe, die „kleinen Bratzen“, die am Rande stehen und wohlmöglich „Haut-se…“ (vom Rest des Spruches schweigen wir mal) schreien, auf ihrem Weg in die Selbsterkenntnis leiten zu dürfen.
Aus Sicht der russischen Machthaber erscheint zunächst schlüssig, dass sie die westlichen Staaten für die Verschärfung der Kampfhandlungen verantwortlich machen. Es stimmt ja: Würde der Westen der Ukraine keine Waffen mehr liefern, so führte die militärische Überlegenheit Russlands über kurz oder lang zum Ersterben der Kampfhandlungen. Also argumentiert die russische Führung, Schuld am Krieg seien die Waffenlieferungen von Nato und Co. Denn dadurch würden die (ansonsten hilflosen) Ukrainer verführt, das Unterfangen der Sicherung ihrer Unabhängigkeit starrköpfig weiter zu verfolgen.
Solche Argumente der Gewalttäter, die hier im Weltmaßstab zu hören sind, kennen Pädagog*innen aus der Aufklärung der Konflikte, die hinter Schulhofschlägereien stecken. Wenn sich da die Opfer der Gewalt hilflos ergeben, ist die Gewalt eben nicht vorbei. Im schlimmsten Fall verstärkt sich die Traumatisierung sowohl von Tätern als auch von Opfern, wenn der Versuch der Täterseite, die offene Gewaltanwendung zu verdecken, erfolgreich ist. Schulhof-Konflikte sollten daher nicht unterdrückt, sondern aufgelöst werden.
Ansonsten geht die Gewalt im Inneren der Beteiligten weiter, wandelt sich in Ängste und Aggressionen um, zerfrisst die Psyche und das Lebenspotential aller Beteiligten, macht das weitere Leben unter den Bedingungen des ständigen Bedrohens und des Bedroht-Seins zu Hölle. Die Umwandlung der Konfliktlage in eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten wäre die Auflösung des Konflikts. Das erfordert viel Einfühlungsvermögen der handelnden Pädagog*innen, oft auch enorme Kreativität beim Finden von für beide Seiten akzeptable Lösungen. Das gelingt – manchmal.
Bei Fortsetzung der Bedrohungslage erleiden die Täter ähnliche psychische Schädigungen wie die Opfer der Gewalt. Von Linden B. Johnson, der amerikanischen Führungsperson im Vietnamkrieg, wurde berichtet, er lösche nachts nicht mehr das Licht, weil er sonst von Dämonen heimgesucht werde. Wer anfängt, sich „seinen Teil“ mit Gewalt zu nehmen, muss sein gesamtes restliches Leben lang fürchten, dass sich sein Gegenüber „seinen Teil“ mit Gewalt wieder zurückholen will. Selbst wenn das Gegenüber diesen Plan gar nicht hat: Der Gewalttäter wird – weil er sich sein Gegenüber so vorstellt, wie er selbst denkt – seinem Gegenüber stets unterstellen, dass er diesen Plan hat.
Gerade wir Deutschen kennen es: Die Tätergeneration unserer Eltern bzw. Großeltern im zweiten Weltkrieg waren oft nicht einmal dazu in der Lage, darüber zu sprechen, welches Unheil sie angerichtet hatten. Wie sich die seelischen Beeinträchtigungen der Täter-Traumatisierung von der Kinder- bis zur Enkelgeneration vererbt, wissen wir inzwischen aus der Familientherapie: Die mentalen, innerpersonalen Schäden sind noch nach 100 Jahren spürbar – die zerbombten Städte sind da schon längt wieder aufgebaut.
Damit kein Missverständnis entsteht: Moralisch gesehen ist Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener Ziele indiskutabel. Der Täter geht mit einer fehlerhaften Sinnsicht zu Werke. Er schädigt sowohl das Opfer als auch sich selbst. Wenn er nicht erkennt, wie sehr er sich mit der Gewaltanwendung selbst schädigt, braucht er Hilfe bei der Ausbildung einer konstruktiven Sinnsicht auf sein Handeln. Der zivilisierte Mensch übt deswegen keine Gewalt aus, weil er nicht in einer Welt leben will, die durch gewaltsame Konfliktlösung bestimmt wird.
Aus der Arbeit in den Schulen an den Konflikten wissen wir aber: Jede moralische Entrüstung ist Gift bei der Bewältigung solcher Konflikte. Sie führt dazu, die „Schuld“ der einen oder der anderen Seite zuzuweisen. Konflikt-Auflösung besteht darin, dass beide Seiten – Täter und Opfer – sich in ihrer wechselweisen Verstricktheit erkennen: Es ist ihnen nicht gelungen, eine gemeinsame Konfliktlösung im Sinne des Win-Win zu entwickeln. Also müssen beide Seiten für sich klären, wieso das eigene Verhalten nicht das bestmöglich-zielführende Agieren ist.
Wer könnte also die Aufgabe übernehmen, dafür zu sorgen, dass die russische Militärführung zur Einsicht kommt, dass sie selbst und das eigene Volk auf längere Sicht sehr großen Schaden bei einer militärischen Entscheidung des Krieges im Osten der Ukraine nimmt? Der Schaden für die Psyche der Verantwortlichen in Russland ist schon jetzt unermesslich. Derzeit sorgt die russische Führung mit allen Mitteln dafür, dass dort das Wissen der Menschen um das, was passiert, und damit die seelischen Schäden aller Beteiligten, möglichst klein bleibt – durch Internetzensur und propagandistisches Umdeuten des Konflikts.
Die Erfahrung zeigt aber, dass sich das in der Welt von heute auf Dauer nicht durchhalten lässt. Je länger die russische Führung den Krieg vorantreibt, desto größer ist der Teil des russischen Volkes, der sich als Mittäter versteht und schwer traumatisiert wird. Das ist der Preis, den die Führung ihrem Land auflastet. Ist sie sich dessen bewusst, dass sie so das eigenen Land ruiniert?
Die systemische Pädagogik lehrt, dass Menschen ihre Sinnsicht selbst ändern. Dazu hilft Perturbation, also Aktionen, die Nachdenken auf der Seite des Aggressors auslösen – das sind nichtverletzende Interventionen auf die Sinnkonstruktion, mit der dieser Personenkreis das eigene Handeln hinterlegt. Man kann niemanden zwingen, seine Sinnsicht zu ändern. Man kann ihn nur anregen, nochmal nachzudenken.
Eine Kapitulation der Ukraine würde in diesem Sinne nicht als Perturbation wirken. Sie wird nicht der Auslöser dafür sein, dass Beteiligte ihre Haltung überdenken und korrigieren. Die Welt muss nach besseren Lösungen dafür suchen.
Heute ist kein guter Tag, einen Beitrag für Pädagogik der Gegenwart zu schreiben.