Kinder können das! – Wenn man sie lässt.
Nochmal zum Thema: Willkommensklassen oder Inklusion?
Schon vor einem Monat haben wir – in dem Blogbeitrag „Die nächste Welle kommt. Was tun?“ am 11.3. – die klare Empfehlung gegeben: Wenn eben möglich, Inklusion! Setzt die Flüchtlingskinder aus der Ukraine mit an die Gruppentische der bestehenden Lerngruppen eurer Schule. Vertraut auf die Inklusionskraft der direkten Interaktion der Kinder!
Eine Woche später kam ein Bericht aus einer Grundschule von einem Jungen aus der Ukraine in einer Grundschule in NRW. Die Lehrkräfte haben das Kind – nennen wir es einfach mal Wolodymyr – in eine laufende jahrgangsübergreifende Klasse 1/2 (JüL-Klasse) gesetzt. Seit vier Wochen lernt es dort. Die Lehrkräfte, die die Klasse begleiten, sind begeistert.
Jetzt ist unser Schulentwicklungsberater einigermaßen irritiert. Anlass ist die Debatte, die die taz an diesem Wochenende losgetreten hat. Die bekanntermaßen eher links ausgerichtete Tageszeitung lässt Pädagog*innen (9.4.22, S. 10/11; „Ihr Blick geht nach vorne“) zu Wort kommen, die erklären, wieso es ohne Willkommensklassen nicht geht. Ein Schulleiter eines Gymnasiums konstatiert, dass direkte Inklusion vielleicht in der Grundschule gelingen mag, im Fachunterricht der weiterführenden Schule das dagegen nicht gelingen könne: „Es ist doch eine Illusion, dass Jugendliche ohne Sprachkenntnisse [der Schulleiter meint ‚deutsche Sprachkenntnisse‘] bei Physik oder Geschichte mitkommen“. Die fremdsprachlichen Jugendlichen würden, so seine Befürchtung, wegen fehlender Sprachkenntnis bloßgestellt.
Unser Schulentwicklungsberater ist Gesamtschullehrer und fragt sich, wie der Kollege wohl auf diese Ideen kommt. Jeder im Klassenraum weiß doch, welche Ursachen das Sprachproblem hat. Könnte es vielleicht die gymnasiale Form des Fachunterrichts sein, die daran hindert, inklusiv zu denken, zu handeln und Lernen zu gestalten?
Darum haben wir nochmal in der Grundschule nachgefragt, wie sich Wolodymyr in seiner Lerngruppe entwickelt – um zu überlegen, ob die Gelingelemente auch auf „höhere Semester“ übertragbar sind.
Am ersten Tag hat sich der Junge eine Art Mentorin unter den Mitschüler*innen gewählt. Das Mädchen setzte sich an seine Tischgruppe neben ihn und hat ihm ganz viel erklärt, wie das Lernen in der JüL-Klasse abläuft. Die beiden sind zusammen in die Pause gegangen. Seitdem spielt Wolodymyr mit den Kindern der Klasse.
Die sogenannte Sprachbarriere erwies sich dabei als für die Kinder kaum existent. Als vorteilhaft erwies sich schon vom ersten Tag an, dass in der JüL-Klasse individualisierendes Lernen in kooperativen Settings abläuft. Strukturelement der Lernprozesse sind Ich-Kann-Sätze, die auf individuelle Lernlandkarten geklebt und von jedem Kind fortgeschrieben werden. Zu den auf diese Weise mit den Kindern geteilten Kompetenzzielen des Lernens gibt es Lernangebote – als handlungsorientiertes Material (z.B. Montessori), als Arbeitsblätter, in digitaler Form – eine reiche Lernumgebung eben. Auch können alle Kinder mit digitalen Lern- und Arbeitswerkzeugen arbeiten: Iserv bedienen, Anton und Antolin starten, im Netz recherchieren, Apps aufrufen und nutzen.
Eine App spiele in der Klasse eine besondere Rolle: „Sayhi“! Sie überträgt Spracheingabe vom Deutschen ins Ukrainische (auch in andere Sprachen) und zurück. Wenn es anders nicht ging, kam diese App zum Einsatz – nach Beobachtungen der Lehrkräfte der Klasse eher selten. Denn Wolodymyr wollte nicht die App benutzen, sondern, wie er sagte, „Deutsch lernen“ und daher so weit wie möglich die deutsche Sprache benutzen. Alles weitere regelt die Sprachbasis der Schule, von der wir schon vor einem Monat berichtet haben.
Der bekannte Translator von Google erwies sich eher als das Tool der Erwachsenen. Den aktuellen Ich-Kann-Satz hineinkopiert, auf ukrainisch angezeigt, vom Programm vorgelesen – schon wusste Wolodymyr, woran die Klasse arbeitete. Auch andere Info-Texte in deutschen Lernmaterialien wurden so im Handumdrehen zu ukrainischen Lernmaterialien.
Die Förderpädagogin recherchierte im Netz nach ukrainischen Lehrmaterialien. Wenige Tage nach Kriegsbeginn fand sie vielfältige Grundschul-Lernmaterialien auf Ukrainisch im Netz. Inzwischen gibt es vollständige digitale Lerneinheiten für die europaweit verstreuten ukrainischen Kinder – eine beeindruckende Leistung dieses Landes unter den Bedingungen des russischen Angriffskrieges! Sie sind ähnlich strukturiert wie deutsche Lernmaterialien. Mit den auf ukrainisch übersetzen Ich-Kann-Sätzen können die Kinder der Klasse, im Team zu zweit oder dritt, Wolodymyr dabei, in vielen Fällen sogar selbst Matheaufgaben aussuchen, die sie kooperativ bearbeiten. Wolodymyr kann, so viel er mag, mit den Lernmaterialien aus seinem Heimatland arbeiten. Das machte er in den Wochen bis zu den Ferien eher selten, weil es sein erklärtes Ziel ist, Deutsch zu lernen. Vielleicht ändert sich das nach den Ferien – die Lernbegleitung, die in der Klasse jedes Kind durch eine Lehrperson bekommt – erhält er genauso wie jeder andere Lernende.
„Ja Herrschaftszeiten!“ – fragt sich unser Institutsmitglied mit Gesamtschul-Expertise: „Wieso soll das denn in der weiterführenden Schule nicht genauso klappen?“ Die Wahrnehmungen der ukrainischen Jugendlichen, die direkt den Weg in solche Schulen finden und da, dank engagierter Lehrkräfte, sofort inkludiert – und nicht in als Willkommensklassen deklarierte Warteschleifen geschoben werden, ist dort: Diese Jugendlichen sind zielstrebig, wissen, was sie wollen, lernen selbstbewusst. Sie sollten doch noch viel mehr in einem auf inklusives Arbeiten ausgerichteten Unterricht kooperativ lernen können als Kinder in der Schuleingangsphase!
Wir vermuten: Es liegt am Lernkonzept, das Gymnasien verfolgen, wenn dort die Lehrkräfte nicht die Fantasie besitzen, solche Lernprozesse anzuregen, wie es die Grundschule vormacht. Wenn dort Lehrkräfte glauben, dass Jugendliche hauptsächlich von den Lehrkräften lernen, dann können dort ukrainische Jugendliche von einer deutschen Lehrperson nichts lernen. Denn: Wenn die Jugendlichen (noch) nicht Deutsch sprechen und die Lehrpersonen kein Ukrainisch, wer soll es dann richten?
Wie führende Pädagog*innen, wie z.B. Franz E. WEINERT lehren, ist jedoch „Lernen das Überführen von Potential in Kompetenz durch Eigentätigkeit“. Folgt man dieser Definition, hat Schule die Aufgabe, Potential zu entfalten. Hilbert MEYER hat es mal – Zitat grob aus der Erinnerung – sehr plastisch so erklärt: „Lernen ist wie Gehen. Wege entstehen beim Gehen und Umwege führen oft schneller zum Ziel als der vermeintlich gerade Weg.“ Vielleicht könnten Gymnasien, unsere Flaggschiffe des Bildungssystems, mal den Umweg über das Ukrainische als Direttissima (1) des gemeinsamen Kompetenzerwerbs kultivieren?
(1) Route, die ohne Umwege zum Gipfel eines Berges führt