Neue Kinder treffen auf bestehende Lerngruppen – eine Herausforderung zur pädagogischen Gestaltung!
Letzte Woche haben wir dafür geworben, Flüchtlingskinder aus dem Ukraine-Krieg nicht in Auffangklassen zu verschieben, sondern sofort in die bestehenden Lerngruppen zu integrieren. Leicht populistisch formuliert – danke für die Kritik! – haben wir eine Welle angekündigt. In Wirklichkeit kommen natürlich Kinder – in manchen Schulen des Landes jeden Tag eins. Sie brauchen Kontakt und Anschluss zur Bewältigung ihrer Fluchterlebnisse.
Das löst starke Emotionen auch bei den Menschen aus, die hier leben, bei Lehrpersonen, Eltern, den übrigen Kindern. Wie agiert Schule, in der die Begegnungen stattfinden, mit Achtsamkeit? Wichtige Botschaft an die Lehrkräfte: Es gilt das Überwältigungsverbot! (s.u. und Link) Der Beutelsbacher Konsens fordert von der Schule, sich nicht an den Problemsichten der Erwachsenen, sondern an den Lernbedarfen der Kinder zu orientieren. Was brauchen diese, um miteinander sprechen, lernen, leben zu können? Die Handlungsfähigkeit der Lernenden zu stärken ist der Auftrag der Schule! Besonders in einer so schrecklichen Krisensituation, in der Menschen vor den Bedrohungen durch Krieg flüchten müssen.
Es bedarf also pädagogischer Reflexion sowie klares Agieren von Schulen bei der Ausgestaltung des Raums, in der sich die Menschen begegnen. Wir zeigen hier ein Beispiel einer Schule, die diesen Anspruch ernst nimmt und Konflikte vorausschauend kanalisiert. Sie hat ein Schreiben an die Eltern verfasst. Verschickt wird es jeweils in den Lerngruppen, in die Kinder aufgenommen wurden:
Liebe Eltern,
aktuell nimmt unsere Schule bereits Kinder aus der Ukraine auf, heute auch in Ihrer Lerngruppe.
In der Regel informieren wir Sie nicht über Zu- und Abgänge in der Lerngruppe. Diese Information erreichen Sie in der Regel tagesaktuell über die Kinder.
Dass wir es heute tun, hat den Grund, dass wir Ihnen Rückmeldung zum Umgang mit dem Thema „Krieg“ bzw. „Frieden“ in der Lerngruppe geben möchten.
Der Krieg in der Ukraine ist bestimmt in Ihren Familien Thema, die Wahrnehmung und der Umgang damit ist garantiert
- unterschiedlich bezogen auf die Menge und Art der Informationen, die Sie Ihrem Kind zugänglich machen,
- unterschiedlich bezogen auf die Sorgen und Ängste im Umgang mit diesem Thema – bei Ihnen wie bei Ihren Kindern,
- unterschiedlich bezogen auf die Sichtweise auf diese kriegerische Auseinandersetzung,
- unterschiedlich bezogen auf Ihre Bezüge zu den beiden Ländern und zu den familiären Erfahrungen mit Kriegssituationen,
Diese Vielfalt in den Dimensionen des Themas, des Umgangs und der Sichtweise darauf spiegelt sich auch in unserer Lerngruppe wider.
Es gibt Kinder, die haben noch nichts davon gehört. Andere sitzen mit ihren Eltern vor den täglichen Bildern im Fernsehen. Für einige ist ein Thema unter vielen, für andere keins und wieder andere DAS Thema aktuell, usw.
Wir gehen mit dem mit, was die Gruppe bzw. Teilgruppe diskutiert, greifen es auf und besprechen es – mal mit allen, mal mit denen, die es gerade diskutieren und hören wollen.
Ziel ist für uns:
- den Kindern zuzuhören, ihre Fragen ernst zu nehmen und – wenn möglich – zu beantworten,
- jedem Kind den Raum zu geben, den es bei diesem besonderen Thema braucht,
- jedem Kind zuzugestehen, sich einzubringen oder rauszuziehen, so wie es für es gerade passt,
- die Konflikte in der Welt nicht zu verschweigen, sondern für die Kinder handhabbar und verdaubar zu diskutieren.
- die Probleme in der Welt auf unser Zusammensein in der Lerngruppe zu übertragen und damit verständlich zu machen (Konfliktlösungen üben, Probleme ansprechen üben, das friedliche Mit- und Nebeneinander üben, für seine Wünsche eine Lösung finden, zu der alle Beteiligten ja sagen können, die eigene Freiheit geht so weit, wie sie Grenzen der anderen nicht überschreitet…). Unsere Schulprogrammbausteine Demokratie, Partizipation/ Teilhabe, Mitbestimmung, die in unserem Unterrichtsalltag fest verankert sind, erhalten damit eine aktuelle Wichtigkeit größerer Dimension.
- die Gemeinsamkeiten zu stärken und ein Polarisieren zu vermeiden.
Mit dieser Haltung stellen wir uns dem Thema „Krieg“, auf das Ziel hin formuliert „Frieden schließen“ im Kleinen (Lerngruppe) wie im Großen (Weltpolitik). Wir sind dankbar, wenn Sie diese Haltung mittragen, um die aktuelle Integration mit auf den Weg zu bringen.
Falls Sie Ideen für Unterstützungen im privaten Bereich oder Fragen haben, halten wir es aktuell für sehr sinnvoll, wenn Sie sich bei uns melden, damit wir die Ideen koordinieren und Fragen beantworten können. Unsere Maxime ist in der aktuellen Situation wie auch für jedes Kind zu jeder Zeit: So viel Normalität wie möglich, weil es ALLTAG und damit SICHERHEIT produziert, so viel Unterstützung wie nötig, damit ALLTAG und SICHERHEIT einziehen kann.
In diesem Sinne…
Das Team der Pädagog*innen der Klasse Ihres Kindes
Wir finden: Ein vorbildlicher und transparenter Umgang mit einer Problematik, die uns alle umtreibt. Wir alle wünschen uns Alltag und Sicherheit für diese Kinder, für unsere Kinder und für uns. Jede Schule ist jetzt klug beraten, alle Beteiligten am Lernprozess dazu anzuregen sich gegenseitig dieser Haltung zu vergewissern: Frieden schließen im Kleinen und im Großen.
Im Wortlaut: I. Überwältigungsverbot.
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern . Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.