Die nächste Welle kommt – was tun?
Nein, es geht nicht um steigende Inzidenzen. Es geht um die Folgen des Kriegs in der Ukraine. Die nächste Welle von Flüchtlingskindern rollt auf unsere Schulen zu.
Niemand weiß, wie lang die Kinder, die nun kommen, bei uns bleiben werden. Wochen? Monate? Jahre? Auf Dauer?
Das spielt keine Rolle. Wer da ist, braucht den Schutz und den Zugang zum sozialen Leben unserer Gesellschaft. Wir können die Kinder nicht darauf warten lassen, bis sich ihre Perspektive dauerhaft klärt. Sie brauchen Schule – sofort!
Manche Schulministerien planen, erneut auf das Modell der Flüchtlingsklassen zu setzen. Deutsche Kinder bleiben unter sich. Ukrainische Kinder bleiben unter sich. Möglichst wenig merken, dass Fremde im Schulhaus sind. Das alte deutsche Trennungsdenken feiert fröhliche Urstände.
Seit der Flüchtlingswelle aus Syrien wissen wir es besser. Das gemeinsame Leben kommt da am besten in Gang, wo die neu zukommenden Kinder auf gut entwickelte Strukturen vielfaltsgerechten Lernens stoßen. Wenn sowieso in einer großen Lerngruppe jedes Kind verschieden sein darf, und wenn es der Schule gelingt, in und mit der Heterogenität gemeinsames Lernen zu organisieren, dann verwischt sich der Unterschied zwischen Koexistenz, Integration und Inklusion. Er ist nicht mehr wichtig, also verschwindet er aus dem Blickfeld.
Tatsächlich ist die aktuelle Lage ganz anders als die bei der großen Flüchtlingswelle 2015/16. Seinerzeit kamen – und kommen noch immer – Menschen zu uns mit den Wunsch, ihr Herkunftsland dauerhaft zu verlassen und bei uns Asyl zu erhalten. Das bringt die pädagogische Herausforderung der Integration mit sich – die Perspektive, dass diese Menschen auf lange Sicht einen guten Platz in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft erhalten.
Die jetzt anrollende Welle von Flüchtlingen besteht aus Schutzsuchenden, die ihre Wurzeln in Europa haben. Sie verstehen sich als Europäer. Sie sind nicht vom Wunsch beseelt, ihr Heimatland zu verlassen. Viele Kinder sind traumatisiert und benötigen in besonderem Maße die Kommunikation mit Gleichaltrigen, um ihr Seelenleben zu stabilisieren. Solange sie bei uns zu Gast sind – ob kurz oder lang – brauchen sie einen guten Zugang zu einer Lerngruppe mit Gleichaltrigen. Das Sprachproblem ist, wie bei jedem Kind, das in Europa zeitweise die Schule eines anderen Landes besucht, eine Inklusions-Herausforderung der aufnehmenden Schule. Dafür brauchen wir eine Lösung, die heute wirkt. Auf langfristiges Lernen hin angelegte Sprachkurse sind für diese Zielgruppe keine Lösung.
Wie können Schulen jetzt reagieren? Wir raten: Bildet in den regulären Klassen Peergroups von fünf bis sechs Kindern, die ein festes Lernteam bilden (wenn ihr das nicht sowieso schon habt, weil es pädagogisch schlau ist)! Diese Kinder bilden gemeinsam eine wechselweise Verantwortungsgemeinschaft. Alle Peers der Gruppen sorgen dafür, dass jedes Gruppenmitglied einen guten Zugang zum Lernangebot der Klasse bekommt. Dass es gut und mit enger sozialer Bindung zu den Lernpartner*innen lernen kann.
Die Kinder aus der Ukraine verteilt Ihr auf die bestehenden festen Lernteams. Auch wenn sie noch kein Wort Deutsch sprechen. Auftrag der Peer-Groups ist: Sorgt dafür, dass die Neulinge vom ersten Tag an in den sozialen Lernprozess der Klasse eingebunden werden. Hilfreich ist, wenn jede Tischgruppe dafür ein Tablet mit einem Übersetzungsprogramm bekommt. Die Kompetenzziele und Ich-Kann-Sätze, an denen die Peergroups lernen, übersetzt das Übersetzungsprogramm von Deutsch auf Ukrainisch. Das Programm unterstützt auch die übrige Gruppenkommunikation.
Wenn Sie die personalen Ressourcen auftreiben können, so richten Sie in der Schule eine Sprachbasis ein: Einen Raum und Zeitfenster, wo eine erwachsene Person anwesend ist, die ukrainisch spricht. Und eine Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache. Gibt es Sprachprobleme in den Peergroups der Klasse, so gehen das ukrainische Kind und ein deutsches Kind der Peergroup zusammen zur Sprachbasis. Das ukrainische Kind erklärt dem ukrainisch sprechenden Erwachsenen – vielleicht hilft auch Russisch als Verständigungssprache – und das deutsch sprechende Kind dem deutsch sprechenden Erwachsenen, wo das Verständigungsproblem liegt. Alle vier Personen lösen zusammen des Problem – dann können die beiden Kinder wieder in ihre Lerngruppe zurückkehren.
Bei diesem Vorgehen entwickeln manche Kinder den Wunsch, mehr von der Sprache des anderen zu können. Vielleicht ist der Druck für das Ukraine-Kind größer, Deutsch zu lernen, als für das Deutsch-Kind ukrainisch zu lernen. Das muss sich ergeben – es wird sich ja zeigen, bei wem der Sprach-Lern-Wunsch erwacht.
In so einem Fall bucht ein Team, bestehend aus dem ukrainisch-sprechenden und einem deutsch-sprechenden Kind, einen Sprach-Lern-Slot in der Sprachbasis. Dort sorgen die Betreuungskräfte für unterstütze Kommunikationssituationen als Lernmöglichkeit. Vielleicht haben die Kinder-Teams sogar Lust auf Wortschatz- oder Grammatikübungen. Wichtiger aber sind sinnstiftende Kommunikationsmaterialien, die das Sprechen anregen. In die Kunst, digitale Übersetzungsprogramme zum Selbstlernen zu nutzen, werden sie gleich mit eingewiesen.
Sprachlernkompetenz – also die Kompetenz, sich selbst so zu lenken, dass man eine Fremdsprache lernt, indem man sie nutzt – könnte so zum Nebenprodukt dieser für alle Beteiligten angespannten Situation werden. Das Beste aus der Krise zu machen, verbindet gerade die Völker Europas. Es gäbe viele und schönere Gründe dafür, dass ein Kind plötzlich in einem anderen Land Europas als Gast in einer Peergroup seines Jahrgangs einer dortigen Schule sitzt. Es gilt den Versuch zu wagen, für die Schüler*innen (nicht nur aus der Ukraine) auch etwas Positives aus der Situation zu schlagen.