Hundertschaften Schoko-Nikoläuse
Heute, am 6. Dezember stellt sich die dringende Frage: Drücken Schoko-Nikoläuse Wertschätzung aus? Oder ist das Überreichen solcher Schoko-Hohlfiguren gar eine subtile Form sozialer Diskriminierung – für die, die zu viele oder zu wenige davon bekommen?
Diese Frage, auf die wir bei unserer Ifpb-Teamsitzung Anfang Dezember stießen, gehört zum humorvollen Anteil der Arbeit unserer professionellen Lerngemeinschaft, als die wir das Team, sozusagen die ideelle Hälfte unseres Instituts verstehen. Die Beschäftigung mit den Herausforderungen der Pädagogik der Gegenwart verbindet uns Aktive eben auch affektiv, nicht nur kognitiv. Kurz vor Weihnachten, wo alle Welt in Gefühlen schwelgt, wollen wir auch mal diesen Aspekt beleuchten.
Irgendwie kamen wir beim letzten Treffen ins Erzählen. Wir waren wegen Corona und großer Distanzen der Orte, wo die Beteiligten gerade sitzen, digital versammelt, trotzdem aber auch emotional – das bekommen wir inzwischen ganz gut hin. Ein Teammitglied erzählt von seiner Tätigkeit vor Jahren an einer Gesamtschule. Der November mit vielen Lernkontrollen und die ersten Dezembertage bis zum Nikolaus seien stets die Horrorperiode des Schuljahres gewesen. Einerseits dunkel und kalt, andererseits unruhig durch die emotionale Vorspannung der Schüler*innen auf die Weihnachtszeit mit den Geschenken. Zu keiner Zeit im Schuljahr, auch vor den zentralen Abschlussprüfungen, lägen die Nerven der Beteiligten so blank. Fulminanter Tiefpunkt sei der Nikolaustag. An dieser Stelle „Ach-Horror“-Ruf einer weiteren Teilnehmerin. Die SV-Nikolausaktion scheint an vielen Schulen verbreitet. Nach Überwindung dieses Drama-Tages gehe es im Schuljahr aber wieder bergauf. Der Nikolaustag als lokales Minimum der Emotionskurve über das Schuljahr – wenn man es mal mathematisch formulieren dürfe.
Warum gerade der Nikolaustag? Die SV veranstaltete an der Gesamtschule wie an vielen Schulen Mode jedes Jahr eine große Nikolaus-Aktion. Alle, die wollten, konnten dort in den ersten Dezembertagen für 1 Euro einen Schoko-Nikolaus bestellen, der am Nikolausmorgen dann einer Person seiner Wahl an deren Platz gestellt wurde. Die Aktion boomte ohne Ende. Die SV kaufte bei den umliegenden Discountern Hundertschaften von Schoko-Nikoläusen auf – erstaunlich, welche Mengen dort vorrätig waren! Die Essenswagen der Mensa wurden beschlagnahmt, mit den Schokofiguren beladen und am 6. Dezember vor dem Unterricht verteilt. Auf manchen Schülertischen drängten sich zu Beginn der ersten Stunde 10 oder mehr Trophäen. Ein Schoko-Soziogramm! Jeder konnte sehen, wer besonders beliebt war. Sehr deutlich wurde auch, wer keine Fans unter den Mitschülern hatte. Vermutungen kursierten, dass der eine oder andere King-of-Swing manipulativ nachgeholfen habe, gut dazustehen, durch Bestechung von Bestellern oder – noch leichter – durch Buchung von Figuren auf den eigenen Namen.
Die es nicht erlebt haben, finden die Aktion ganz lustig. „Nein“, erklärte unser Teammitglied. „Die Diskriminierung derjenigen, die bei der Verteilung leer ausgingen, machte uns Lehrer*innen große Sorgen. Unser Anspruch des wertschätzenden Umgangs miteinander verträgt sich nicht mit so einer Aktion. Aber die SV war durch sozialpädagogische Argumente nicht umzustimmen, denn sie machte natürlich gute Geschäfte bei der Aktion. Verbieten durch die Schulleitung war an der Gesamtschule ein No-Go. Also fand sie viele Jahre lang statt. Natürlich war der Verzehr von Nikoläusen im Unterricht nicht erlaubt, erfolgte also heimlich. Einige Schüler*innen hatten am Ende der 2. Stunde schon drei Figuren verzehrt. Die große Schokoladenschlacht fand dann in der großen Pause statt. Unmengen von Alu-Schnipseln von den Figurenhüllen sammelte sich auf den Fußböden. Die ersten Intensiv-Konsumenten mussten sich übergeben. In den restlichen Unterrichtsstunden hing eine Wolke von rückwärts genossenen Schokofiguren in den Fluren und gewissen Klassenzimmern. Das war wirklich der Tiefpunkt des Schuljahres.“
„Wurden die Lehrkräfte denn auch bedacht?“ erkundigte sich jemand aus unserer Runde. Das erzählende Teammitglied lächelt versonnen: „Ja. Auch auf den Tischen im Lehrerzimmer stapelten sich die Schokofiguren. Damals hatte noch jede Lehrperson ihren festen Platz an einem Tisch im Lehrerzimmer. Es gab noch keine Teamstruktur nach Jahrgangsgruppen. Jeder hatte da seinen Platz, wo die Kolleg*innen saßen, mit denen er oder sie am besten konnte. Neue mussten erst mal darum kämpfen, überhaupt einen festen Platz besetzen zu können. Auch hier erzeugte die Aufstellung der Nikoläuse eine Art Soziogramm. Nur waren die Bewertungskriterien unklarer als in den Schulklassen. War derjenige hip, der am meisten, oder der, der am wenigsten Figuren geschickt bekommen hatte? Die Null-Nikolaus-Kollegen galten als Hardy, die mit vielen Figuren als Softie. Ich glaube, heimlich wollten alle zu den Softies gehören, aber darüber wurde nicht gesprochen.“
„Und Du, wie warst Du im Ranking?“ „Damals leitete ich noch eine Klasse. Das brachte mir immer in paar Figuren ein, wenn ich mich nicht zu ungeschickt anstellte. Ich war immer profiliert und lag im unteren Mittelfeld – eine vorsichtig-achtsame Positionierung. Seit dieser Zeit hasse ich Schoko-Hohlfiguren, besonders die billigen vom Discounter. Meine habe ich stets den Kindern geschenkt, die in meiner Klasse beim Nikolaus-Soziogramm schwach abgeschnitten haben. Kompensatorische Pädagogik – so, lernte ich schon im Studium, bezeichnet man wohl ein derartiges Lehrerhandeln.“