Nichtwählende – eine pädagogische Herausforderung?
Mit mehr oder weniger erhobenem moralischen Zeigefinger werden Menschen, die nicht zur Bundestagswahl gehen wollen, derzeit in der Öffentlichkeit behandelt. Ist es nicht, gerade in unserem Land auf dem Hintergrund unserer politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine bürgerliche Pflicht, im Wahllokal zu erscheinen und dort sein Kreuzchen zu hinterlassen? Sind Menschen, die das nicht tun, etwa nicht zu ordentlichen Demokrat*innen erzogen worden? Hat Pädagogik ihren gesellschaftlichen Auftrag nicht erfüllt?
Aus Sicht unseres Instituts hilft bei der Antwort auf die Frage ein nüchtern-analytischer Blick auf die Handlungssituation der Beteiligten. Wir unterscheiden die Handlungslagen der Menschen, die (1.) mit dem Gedanken spielen, nicht zur Wahl zu gehen, und diejenige derer, die (2.) möchten, dass die Wahlbeteiligung so hoch wie möglich ist.
Das Recht, die Stimme bei der Bundestagswahl abzugeben und so auf die politischen Entscheidungen der Republik Einfluss zu nehmen, haben alle volljährigen Deutschen: Sie können wählen, müssen aber nicht. Ein Recht, das man hat, wird nicht dadurch entwertet, dass man es nicht wahrnimmt. Im Laufe eines Lebens nehmen Menschen nur einen kleinen Teil der Rechte aktiv wahr, die sie haben. Den größten Teil ihrer Rechte nutzen sie nicht – das ist zwangsläufig.
Also ist es keinesfalls moralwidrig, sich nicht an der Wahl zu beteiligen. Die Nicht-Beteiligung ist keine Geringschätzung des Wahlrechts oder der Demokratie als Staatsform. Sie ist vielmehr funktional eine Zustimmung zu der Wahlentscheidung aller, die sich aktiv an der Wahl beteiligen. „Ich überlasse die Entscheidungen denjenigen, die für sich eine klare Position gefunden haben“, ist eine respektable Haltung bei mehrheitlich zu treffenden Abstimmungen.
Sicherlich ist es legitim, sich zu wünschen, dass sich möglichst viele Wahlberechtigte aktiv an der Bundestagswahl beteiligen. Jede Form der Respektlosigkeit gegenüber Nicht-Wählenden ist allerdings fehl am Platz. Aber: Gibt es also Sicht derjeniger, die es wünschen, entwicklungsfördernde Handlungsmuster, die Nicht-Wählende verlocken könnten sich zu beteiligen?
Ein wichtiges Motiv für Menschen, sich zu beteiligen, ist das Erlebnis der Selbstwirksamkeit. Leider sind Wahlen in dieser Hinsicht grottenschlecht. Ob ich meine Stimme abgebe oder nicht, hat bei Millionen Wahlberechtigten keinerlei spürbare Auswirkung. Die Behauptung, die Bürger hätten durch die Beteiligung an einer Wahl einen Einfluss auf die Politik im Land, widerspricht der Wahrnehmung vieler Menschen. Sie fühlen sich bei Wahlen nicht machtvoll, sondern machtlos.
Wenn dann noch die Wählenden moralisierend auf die Nicht-Wählenden einwirken, so spaltet das die Gesellschaft noch mehr. Denn Nicht-Wählende wissen genau: Wer zur Wahl geht, will ihre Stimme für die eigene Partei, aber nicht für die des politischen Gegners. Man soll also zur Wahl gehen und die richtige Partei wählen! Sonst ist man ein Politikversager!
Was lernen wir aus der Perspektive der Pädagogik daraus? Wir müssen genauer definieren, was das Wahlrecht in einer demokratischen Gesellschaft eigentlich ist. Wählen können in der Politik ist etwas anderes als eine Wahlentscheidung im Supermarkt, wo sich die Kundschaft zwischen zwei oder drei Sorten Schokolade entscheiden kann. In der Politik ist Wahlrecht das Recht, sich in die Debatte darüber einzumischen, wie die künftige Welt aussehen soll. Das Wesentliche findet vor der eigentlichen Stimmabgabe statt: Die Debatte über die möglichen Wege. Die diskutierende Erörterung von Chancen und Risiken dieser oder jener möglichen Maßnahme. Die Verständigung darüber, wie die gemeinsame Welt aussehen soll, in der wir zusammen in der Zukunft leben werden. Dazu bracht man kein Kleingeld wie im Supermarkt, wohl aber die Zuversicht, dass der eigene Debattenbeitrag von den Mit-Diskutierenden gehört, Wert geschätzt, durchdacht und ernst genommen wird.
Aus Sicht der Pädagogik sind die, die die politischen Debatten gestalten, verantwortlich dafür, diese inklusiv zu gestalten. Der eigentliche Gewinn einer demokratischen Debatte ist: Sie zieht Bürger*innen in die politische Gemeinschaft hinein, verwickelt sie darin und gibt ihnen die Sicherheit, beteilig zu sein. In der politischen Debatte ist nicht wichtig, Recht zu behalten und die Überlegenheit der eigenen Idee zu beweisen, sondern es geht darum, gemeinsam zu bestimmen, welches für die im Hinblick auf die Zukunft zu treffenden Entscheidungen die bestmöglichen Lösungen sind. Ob sich dabei die Position A oder die Position B durchsetzt, ist weniger wichtig als dass am Ende sowohl die Befürwortenden von A und von B mit der zu findenden Lösung C zufrieden sind.
Daher ist es hochideologisch, wenn die Befürworter einer politischen Position ihre Sichtweise als alternativlos ansehen. Der Ausschluss alternativer Sichtweisen in der politischen Debatte schließt auch die Menschen aus, die die alternative Sichtweise befürworten. In der Debatte sind alle Positionen wichtig, unabhängig davon, welche im Moment Mehrheiten finden. Häufig liegt in der Außenseiter-Idee der Schlüssel für die Lösung der Zukunft. Gerade wenn, wie jetzt in der Nachhaltigkeitskrise, Wandel erforderlich ist, um die Zukunft zu sichern, sind die Stimmen der Minderheit bedeutsam, damit der Wandel eintritt.
Wahlkampf ist daher – unserer Meinung nach – der falsche Begriff für das, was derzeit, also kurz vor der Stimmabgabe, stattfinden sollte. Bei einem Kampf verlieren sowohl die künftigen Gewinner als auch die Verlierer der Wahl. Wir brauchen eine Debatte über die gemeinsame Zukunft in unserem Land. Dabei ist jede Stimme – in der Erörterung der möglichen Wege dorthin – von Bedeutung.
Vielleicht sollten wir die Debatte vor der Wahl von den Menschen bestimmen lassen, die nicht die Absicht haben, ihre Stimme abzugeben? Denn sie wollen die Entscheidung ja den anderen überlassen. Dabei könnten sie sich nützlich machen: Sie könnten den anderen die Einsichten vermitteln, die diese benötigen, um zukunftstaugliche politische Entscheidungen zu treffen.