13 Aug

Winterhoff: Ein pädagogischer Populist gerät unter Beobachtung

„Wir Medien haben ihn groß gemacht: Michael Winterhoff“, so das Bekenntnis zu Beginn der Dokumentation (s. Bild WDR). Hier von uns ein nachdenklicher Beitrag zu populistischen Bestrebungen in der Pädagogik mit einer Bitte an die Medien: Zeigt mehr journalistische Aufbereitung von pädagogischem Können und hört nicht nur auf die, die am lautesten lärmen!

Wie störend pädagogischer Populismus beim Nachdenken über wirksames schulisches Lernen ist, erfahren wir als Beratungspersonen immer wieder. Davon berichten etliche Beiträge in diesem Blog. Wie kann es kommen, dass solche Menschen so großen Einfluss auf das pädagogische Handeln nehmen? Wir freuen uns über einen selbstkritischen Beitrag in der ARD: „Warum Kinder keine Tyrannen sind“. Es geht um Michael Winterhoff, Kinder- und Jugendpsychiater.

Winterhoff präsentiert sich bei seinen vielfältigen Medienauftritten selbstbewusst: „Meine Aufgabe ist es, unserer Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten“. Er verallgemeinert aus seiner psychologischen Praxis: „Wir haben immer mehr auffällige Kinder. Ja, es ist wirklich so schlimm.“

Was macht das mit Menschen, die in pädagogischen Berufen arbeiten, solche plakativen Aussagen, oft unwidersprochen, in Talkshows zur besten Sendezeit zu hören? Mit gewinnendem Lächeln äußert der kinderpsychiatrische Praktiker plakative Wahrheiten. Knallhart wird die Problematik, dass Verhalten von Kindern und Jugendlichen in familiären oder schulischen Kontexten nicht mit den Erwartungen der Erwachsenen verträglich sind, den Kindern zugeschrieben.

Interessant dazu auch sozialverzogen. Schauen Sie sich diese Stellungnahme doch auch einmal an.

Das ist das Konzept des pädagogischen Populismus: Mache aus einer pädagogischen Konfrontation ein Problem, das beim Gegenüber verortet wird und schreibe ihm das Problem als schlechte Eigenschaft zu.

Der ARD-Beitrag zeigt, welche Wirkung es auf die Betroffenen hat, in dieser Weise behandelt zu werden. Die Symptomträger zum Fall zu machen und die Störung mit mehr oder weniger brachialen Mitteln zu therapieren hat eben manchmal ruinöse Folgen. Die Form, in der die Diagnose gestellt wird, wird von Kolleg*innen als fragwürdig bezeichnet. Eine plakative Diagnose Narzissmus führt zur Vergabe von Medikamenten.

Es ist weder unsere Aufgabe noch unsere Kompetenz, das fachliche Handeln von Herrn Winterhoff in diesem Bereich zu beurteilen. Ob das psychiatrische Handeln aktuellen medizinischen Standards genügt, müssen Personen beurteilen, die in diesem Bereich kompetent sind. Der Film gibt erste Antworten dazu von Fachkollegen.

Für uns stellt sich vielmehr die Frage: Wie kommt es, dass eine Person wie Winterhoff in Kontexten, die nicht zu seinem Kompetenzbereich gehören, so große öffentliche Aufmerksamkeit erhält? Welche Wirkung auf die Arbeit in pädagogischen Einrichtungen hat es, wenn die simplen Botschaften eines Herrn Winterhoff zur „Lösung“ des Problems von Verhaltensauffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit breitgetreten werden? Wenn Herr Winterhoff zum Modell und zum Blaupausen-Lieferant (gemacht) wird?

Solche „Ratgeber“ sind geeignet die Lehrer*innen, die Erzieher*innen und alle engagierten Personen in pädagogischen Einrichtungen davon abzulenken, sich bei Erziehungsproblemen gründlich mit der Ursachenforschung zu befassen. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten zeigt, so hat das stets eine lange Vorgeschichte des Misslingens zwischenmenschlicher Kontakte. Oft ist es schwer und mühevoll, zu den Personen, die sich auffällig verhalten, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. Das brauchen Pädagog*innen aber, wenn sie überlegen, was geändert werden muss und wie es geändert werden muss, damit die konfliktbehaftete Kommunikation und Interaktion zum Stillstand kommt. Stets müssen sich beide Seiten verändern: sowohl die erwachsenen Erziehenden als auch die jugendlichen Zöglinge.

Gerade unter den Bedingungen der weiterführenden Schule ist es für alle Beteiligten schwierig, eine Analyse der Problemsituation zu finden und, darauf aufbauend, Lösungen zur Behebung der Konflikthaftigkeit zu finden. Je mehr Erziehende beteiligt sind, desto mehr Zusammenarbeit und Absprache ist hier erforderlich. Inzwischen ist aber bekannt, mit welchen Techniken der Kooperation pädagogische Einrichtungen arbeiten können. Es gibt viele gute Beispiele des Gelingens. Nun steht an, dass die Pädagogen-Zunft der Gegenwart sich mit diesen Kenntnissen vertraut macht. Es steht an, dass Erziehende die Kompetenzen weiter entwickeln, entsprechend professionell zu arbeiten.

Herr Winterhoff stört alle Menschen zutiefst, die sich in diesem Sinne um die Erweiterung des pädagogischen Kompetenzprofils bemühen. Er bekommt als selbst ernannter Experte den öffentlichen Raum, die Mär von devianten Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen zu verbreiten, die sich unerwartet verhalten. Hätte er Recht, so erscheint pädagogisches Reflektieren, Handeln und Bemühen als wirkungslos. Blöd wäre, wer es dennoch versucht.

Gut, dass die öffentlich-rechtlichen Medien erkennen: Sie selbst tragen zu einer solchen Fehlentwicklung bei. Ja, der ARD-Beitrag hat recht, wenn er feststellt: „Wir Medien haben ihn groß gemacht!“ Eine zutreffende Selbsteinschätzung – schön, dass Sie sich trauen, das laut zu sagen!

Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, auch mal die Menschen groß zu machen, die ein differenziertes und achtsames Verständnis vom Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen vertreten. Ein guter Zeitpunkt, Beispiele zu zeigen, dass mit pädagogischer Leidenschaft, mit kooperativem Arbeiten, mit einem diagnostischen Blick auf die hinter den Verhaltensauffälligkeiten steckenden personalen Botschaften der Betroffenen und mit der Suche nach gemeinsamem Lernen von alternativen Mustern des Handelns Lösungen zu finden sind, die für alle Beteiligten zu einem harmonischeren Leben führen. Kurz: Für die journalistische Aufbereitung von pädagogischem Können statt von pädagogischen Plattheiten!


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