Digitale Barriere Lehrperson?
Vor wenigen Tagen zeigte die 20-Uhr-Tagesschau ein Berliner Grundschulkind bei der Hausaufgabenbetreuung. Der Reporter fragt: „Hast du denn gar keinen Videounterricht?“ Das Kind antwortet traurig: „Nein. Ich hole mir montags eine Tüte mit Aufgaben. Freitag bringe ich sie wieder hin. Meine Lehrerin sehe ich gar nicht.“ Bitter für uns IfpB-ler, solche Bilder im Fernsehen zu sehen.
Droht also die Bildungskatastrophe für die Schüler*innen, deren die Eltern die Aufgabe als Hauslehrer nicht wahrnehmen können? Bildungsforscher halten für bewiesen, dass Lernen auf Distanz weniger wirksam sei als Unterricht im Live-Kontakt zur Lehrperson.
Doch das stimmt so pauschal nicht. Das zeigen die Erfahrungen unserer Schulen, die im Lockdown gut dastehen.
Bestimmte Formen der Förderung, gerade für Kinder mit Lernproblemen, klappen auf Distanz sogar manchmal besser als live. Das ist keine Frage der Technik. Das ist eine Frage des pädagogischen Könnens von Schule und Lehrkräften.
Entscheidend dafür ist, dass die Lernenden trotz Distanz in gutem Kontakt mit ihren Lerngruppen und mit ihren Lehrpersonen sind. Ein Kind – wie in der Tagesschau gezeigt – ohne täglichen Kontakt zu Mitschüler*innen und Schule ist abgehängt. In der Verantwortung der Schulen liegt es, wenn es nicht längst passiert ist, spätestens jetzt die Barrieren zwischen Lernenden und Schule so weit abzubauen, dass jede*r in Kontakt kommt.
Digitale Inklusionist das Gebot der Stunde: Abbau der Barrieren, die Lernende davon abhalten, in die digitale Kommunikation mit ihrer Schule zu gehen. Die Probleme identifizieren, die Kinder und Jugendliche davon abhalten, digitale Werkzeuge der Kommunikation zu nutzen. Lösungen finden, die so entwickelt werden, dass die Barrieren überwindbar werden. Indikator: Alle erreichen über die digitalen Kontakt-Möglichkeiten ihre Lerngruppen. Alle loggen sich ein und sind aktiv dabei.
Diesen Zustand zu erreichen, ist hier und jetzt die Lern-Herausforderung für alle Schulen. Am 7.1.2021 haben wir hier im Blog („Schule zu, und nu?“) von einer Schule berichtet, die die ersten Lockdown-Wochen genutzt hat, digital inklusiver zu werden. Die Workshop-Folge ist inzwischen abgeschlossen – ein im Januar pandemiebedingt entfallener Fortbildungstag zum selbstständigen Schüler*innenlernen wurde dezentral umgesetzt. Welche Barrieren identifizieren die dortigen Kolleg*innen? Was hält Lernende davon ab, digital in die Schule zu kommen?
Klare Erkenntnis der Schule: Es ist nicht die Technik, an der das gemeinsame Lernen auf Distanz scheitert. WLAN und Endgeräte gibt es fast überall; wo Familien etwas fehlt, leiht die Schule es aus. Gerade Migrationsfamilien und „bildungsferne Haushalte“ verfügen sowohl über digitales Equipment als auch die Kompetenz, damit zu kommunizieren. Trotzdem loggen sich Kinder aus solchen Familien oftmals nicht in die digitale Schule ein. Sie versprechen sich offenbar davon keine Vorteile. Sie vertrauen ihren Schulen nicht genügend. Das Angebot der Schule lockt sie nicht ausreichend, ihre – oft großen – Vorbehalte zu überwinden.
„Das Problem bin ich eigentlich selbst“, resümiert eine Kollegin. „Ich finde digitales Unterrichten total mühsam, weil ich das nicht so machen kann, wie ich immer gearbeitet habe.“ Ein Kollege ergänzt: „Eigentlich hasse ich die sozialen Medien. Da werden kulturlose Botschaften hin und her geschickt. Sozialer Müll hält einen rund um die Uhr davon ab, vernünftige Dinge zu tun.“
Genau, da lauert das Problem. Gerade ältere Lehrkräfte verfügen nicht über die Fähigkeit, ein Messenger-Programm wie WhatsApp (besser noch Signal oder Threema) bedürfnisorientiert zu nutzen. Wer bestenfalls mal eine Mail verschickt hat, ist der Herausforderung hilflos ausgeliefert, eine Videokonferenz oder ein Messenger-Programm einer Lerngruppe so zu leiten, dass alle Schüler*innen sich gerne und neugierig einloggen.
Einige Lehrpersonen fürchten Autoritätsverlust: Wie steht man als Lehrer*in denn da, wenn die Hälfte der Schüler*innen die Medien besser beherrschen als sie selbst? Die Lehrkraft hat als Host das Recht, ein Erklärvideo zu starten, mag aber nicht zugeben, dass sie das nicht kann? Etwa einen Schüler um Hilfe bitten? Ja ruhig, Schüler*innen wissen ja, dass Lehrpersonen anderes besser können als sie und sind stolz auf ihre Hilfsbereitschaft.
Die Digitalisierung der Schule vertreibt Lehrkräfte aus der lehrerzentrierten Welt der klassischen Schule – in der sie (vermeintlich) ihre Kultur mit administrativem Druck durchsetzen können. Lehrer-Paternalismus mag im Klassenraum (noch) funktionieren, im künftigen digital konstituierten Lernraum Welt versagt sie kläglich. Digitale Werkzeuge der lernbezogenen Kommunikation erlauben den Lerngruppen, sich partizipativ zu vernetzen. Nicht erst seit Beginn der Corona-Krise weiß jede*r, dass es diese Werkzeuge gibt. Aber sie werden sich nun umso schneller als Lernmittel etablieren, ob es Lehrerkollegien passt oder nicht.
Die Frage stellt sich nur noch, ob die Schule sich diese Werkzeuge im Sinne einer emanzipatorisch-partizipativen Bildung erschließen will. Oder ob sie – im Sinne neoliberalen Denkens – die Gestaltung der Werkzeug-Kultur den Einzelinteressen von Beteiligten überlassen will. Das geschieht bereits in vielen digitalen Bereichen. Jetzt müssen die Pädagog*innen sich daran beteiligen, Partizipation und Bildung für alle zu gestalten. Inklusiver Unterricht in heterogenen Lerngruppen muss auch digital selbstverständlich werden.
Es geht um das Selbstverständnis einer ganzen Zunft, deren Bedeutung so zu beschreiben ist: Pädagog*innen stiften entwicklungsfördernde Bedingungen des Handelns für alle Menschen.
Gegenwärtig steht dabei ganz oben auf der Agenda die inklusive Ausgestaltung digitaler Lernräume. Das Neu-Definieren der Lehrerrolle und die Entwicklung des dafür notwendigen Könnens ist dabei von zentraler Bedeutung.
Hallo! Ich arbeite im Team in einer jahrgangsgemischten Lerngruppe Jg. 1/2 und treffe mich täglich auf Distanz mit allen Kindern erfolgreich in einer ViKo. Unser gemeinsames Lernen (das der Kinder und von mir/ uns im Team) läuft genau so wie im Präsenzunterricht ab. Das ist auch in einer 1/2 möglich! Die digitalen Werkzeuge ViKo, Chat, Mail, Fotos hochladen etc. haben wir (Kinder und auch ich/wir im Team) im Präsenzunterricht vorher trainiert, unterstützt durch sinnhafte Aufgaben mit diesen Werkzeugen (z.B. Tischgruppenunterhaltung in der Lernzeit, ohne andere zu stören…). Durch die jetzt erforderliche tägliche Anwendung brauchen immer weniger Kinder die Unterstützung durch einen Erwachsenen oder eine.n Mitschüler.in. Inhaltlich bilden wir unsere Schulkultur auch im Distanzunterricht von 8.00-12.30 Uhr ab: offener Anfang, individualisierte Lernzeit mit Beratungszeiten (z.T. in breakoutrooms), Einführungen in Lerninhalte, interessengeleitete Projektarbeit ausgerichtet an den vorher besprochenen Kompetenzen,usw. Am letzten Freitag fragte ich zum Abschluss die Runde, was die Kinder besonders schön fanden oder worauf sie sich besonders freuen würden – in ihrer Freizeit oder in ihrer gemeinsamen schulischen Zeit. Die Rückmeldungen beschränkten sich ausschließlich auf die Schule (!!!) und spiegelten wider, wie wichtig und bereichernd die Kinder die Gemeinschaft der Lerngruppe und die klaren und bekannten Lernstrukturen empfinden. Das bestätigte für mich/uns im Team, wie wichtig diese beiden Aspekte für die Kinder (und für mich/uns im Team) sind! Die Kinder haben uns bestätigt in unserer Sicht auf Distanzlernen und gleichzeitig beflügelt, in dieser Woche erneut für uns technisch Neues zu erproben! Gemeinsam bewegen wir uns fort! Wir werden die Erfahrungen vom Distanzlernen auch in der Präsenz weiter nutzen: digitale Informationstheken, ViKos für Kinder, die zeitweise Abstand zur Gruppe brauchen oder Kinder, die krank sind oder im Schuljahr neu zu uns kommen, oder oder oder. Die Pandemie hat auch etwas Gutes! Neue Impulse, pädagogische Diskussionen im Team, Suche nach Umsetzungsmöglichkeiten mit technischen Mitteln… ;-)))