„Impeachment!“ oder „Störungen haben Vorrang!“
Heute machen wir ein Gedankenexperiment: Wir deuten das aktuelle Agieren des amerikanischen Präsidenten mit dem Förderblick der Pädagogik, so wie es in inklusiven Lerngruppen heterogenitätsgerechter Schulen Stand der Technik ist. Aus diesem Blickwinkel erscheint das Auftreten Donald Trumps im Zusammenhang mit der Erstürmung des Capitols wie das entfesselte Auftreten eines Kindes mit dem Syndrom der sozial-emotionalen Entwicklungsstörung. Was für Konsequenzen ergeben sich bei dieser Sicht auf die Dinge für das eingeleitete Verfahren der Amtsenthebung?
Störungen haben Vorrang! ist ein Grundsatz der systemischen Pädagogik. Störungen mögen nerven, aber sie sind wichtig, denn sie zeigen Fehler im Zusammenwirken der sozialen Strukturen an, so wie die rote Warnlampe im Auto, wenn dem Motor ein kritischer Zustand droht. Weggucken wäre fahrlässig.
Deswegen gehen Förderpädagog*innen besonders achtsam mit Menschen mit Beeinträchtigungen im Hinblick auf die sozial-emotionale Entwicklung um. In der Behutsamkeit des Umgangs mit diesen Personen drückt sich die hohe Bedeutung eines funktionierenden Zusammenlebens aller Menschen aus. Die Fähigkeit pädagogisch geschulter Menschen, entstehende Konflikte sozialverträglich zu lösen, ist essentielles Element einer gemeinsamen Kultur sehr unterschiedlicher Individuen.
Der scheidende amerikanische Präsident zeigt, aus dem Blickwinkel der systemischen Pädagogik, immer wieder Merkmal sozial-emotionaler Handikaps. Sein Ich im Mittelpunkt zu erleben ist ihm offenbar oft wichtiger als zum Erreichen gemeinsamer Ziele der Gesellschaft beizutragen. Beim Ausgleich zwischen der Befriedigung individueller Bedürfnisse und dem Wohlergehen der jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtheit polarisiert er extrem auf der Seite des Eigennutzes.
Was ihn mit diesen Eigenschaften für Amerikaner massenhaft interessant und wählbar macht, ist offenbar vielen Europäern nicht zugänglich. Er repräsentiert -wie der verhaltensunangepasste Schüller- die Gegenseite zu den Braven, Angepassten, zum politischen Establishment. Viele Amerikaner waren es offenbar Leid, die ausgetretenen Wege der Politik weiter zu gehen und wollten gerne den Versprechungen des Anderen glauben. Daher seine Popularität.
Jetzt ist der Präsident aber zu weit gegangen. Die Leugnung des Ausgangs der Präsidentenwahl fällt nicht mehr unter Polarisierung. Sie zielt auf die Zerstörung des Systems als solches. Demokratische Staaten leben vom Grundsatz, dass der Souverän – das Volk – dem Staatsmann (bzw. der Staatsfrau) Macht stets nur für eine beschränkte Zeit überträgt. Am Ende beurteilt das Volk die Leistung des Staatsmanns. Wer den Wahlvorgang, also die Beurteilung als solche, auszuhebeln versucht, stört das politische System und bedroht durch sein Verhalten das Funktionieren der Staatsform.
Was passiert, wenn der Souverän auf diese Bedrohung nicht reagiert? Aus Sicht der Pädagogik, die sich der konstruktiven Entwicklungsförderung verpflichtet fühlt, sind dann die Hüter*innen des Systems aufgerufen, konstruktiv tätig werden. Das sind die Menschen im jeweiligen Sozialsystem, die in den Augen der Allgemeinheit die Ältesten-Position bekleiden: In der Familie die Eltern, in der Schule die Lehrkräfte und in letzter Instanz die Schulleitung, in der Politik die Parlamente. Zum Erhalt des gesellschaftlichen Friedens ist unerlässlich, dass sie den Regeln zur Geltung verhelfen. Gewaltfrei agieren heißt dann hier, dass sie die ihnen zustehende Autorität und die legalen Mittel des Systems aktiv wahrnehmen und dabei auf jede Form von Willkür verzichten.
Das ist die Herausforderung: Der störenden Person achtsam zu begegnen, auch wenn diese es an Achtsamkeit fehlen lässt. Aggression gegenüber dem Störenfried wäre völlig unangemessen – sie würde das unangemessene Handeln dieser Person rückwirkend legitimieren. Vielmehr ist anzuerkennen, dass die Person, die stört, ein Problem anzeigt, das in der Gesellschaft tiefsitzend ist – je größer der Beifall, den die störende Person erhält, desto tiefer sitzt es. Hier lauert eine monumentale Aufgabe für die Analysten der amerikanischen Gesellschaft.
Und: Reagiert die Autorität nicht, so kommt es zur Katastrophe, denn der Störenfried treibt es immer ärger. Für den Schaden sind dann alle gemeinsam verantwortlich. Die Familientheorie heißt das: Der Vater muss seinem rebellischen Sohn Achtung entgegenbringen, bevor dieser ihm das Dach über dem Kopf anzündet. In der Politik heißt das: Recht und Gesetz werden der störenden Person gegenüber geordnet und überprüfbar angewandt, ob es nun ein Obdachloser oder ein Präsident ist – dann und nur dann, wenn die betreffende Person es zu weit treibt.
Gerade findet der Härtetest der politischen Kultur der Vereinigten Staaten statt. Die Frage ist, ob sich nach dem Repräsentantenhaus auch der Senat durchringt, Trumps Aufruf zur Störung der politischen Ordnung auf höchster Ebene geordnet zu sanktionieren. Im Fokus steht dabei nicht mehr der scheidende Präsident. Nun stehen die Frauen und Männer im Fokus, die den Auftrag haben, für das verfassungsgemäße Agieren des Staates zu sorgen. Wir als Institut für pädagogische Beratung hoffen, dass sie die Kraft haben, pädagogisch zu handeln. Zu Trumps Amtsenthebung gibt es aus pädagogischer Sicht keine Alternative – auch wenn es schwer fällt.
Jedes einzelne Subjekt hat das Recht, Fehler zu machen, den eigenen Antrieben zu folgen und das umsetzen zu wollen, was es selbst als richtig erkannt hat. Dabei kommt es zu Störungen des Zusammenlebens. Das ist nicht nur unvermeidlich, sondern funktional. Denn manche Störungen sind der Ausgangspunkt von wichtigen Innovationen. Doch das System als solches muss stabil bleiben, sonst versagt es. Die Kultur eines fehlertoleranten Systems besteht darin, auf die Störungen zu reagieren und sie konstruktiv zu integrieren. Wenn Störungen Ausdruck schädlicher Entwicklungen sind, hat das fehlertolerante System den Auftrag, die Beteiligten (wieder) zur Verantwortung zu erziehen, bevor es zu nicht mehr umkehrbaren Schäden kommt!
Das gilt in der Familie, im Klassenraum und in der Politik.