Telefonberatung – PräsenzDistanzLernModell
Oft hilft ein pfiffiger Fingerzeig
Wir beraten normalerweise in persönlichen Gesprächen Einzelpersonen oder Teilgruppen in Bildungseinrichtungen. Jetzt, in der Corona-Krise, verlagert sich die Beratung auf Telefongespräche und Videokonferenzen.
Gestern haben wir Schul-Orga für Pädagogen (Wie?) in den Blog gestellt. Heute schellt das Telefon. Die Schulleiterin einer Gesamtschule im Rheinland meldet sich (Dialog verkürzt wiedergegeben, I steht für Institut):
I: Schön, dass Sie sich melden. Was können wir für Sie tun?
SL: Ich habe ein Problem. Letzten Donnerstag haben wir unsere Planung für die Arbeit der Schule ab dem 25.5. (da beginnt in NRW die Rückkehr aller Lerngruppen im rollierenden System) verbreitet. Wir haben uns total Mühe gegeben. Die Reaktionen sind auch überwiegend positiv. Aber trotzdem ist die Stimmung miserabel. Es kommt von einigen Seiten heftige Kritik. Ich frage mich, wie ich reagieren soll.
I: Ist die Kritik aus Ihrer Sicht berechtigt?
SL: Teils, teils. Einzelne Punkte sind Partialinteressen von Kolleg*innen oder Eltern. Aber es kommen auch Einwände, die durchaus Hand und Fuß haben. Unser Modell ist ja, wie wohl nicht zu vermeiden, ein Kompromiss.
I: Sie sprechen von Einwänden, die Sie für berechtigt halten. Würden Sie, nachdem Sie diese Einwände gehört haben, ihre Planung noch mal verändern?
SL: Im Grund ja. Aber das will ich auf keinen Fall. Jetzt haben wir unseren Plan veröffentlicht. Da werde ich keinesfalls wieder zurückrudern. Wie steht die Schule denn sonst da?
I: Das verstehe ich sehr gut. Aber: Aus Sicht der systemischen Pädagogik, die unser Institut vertritt, haben Sie im Vorfeld der Entscheidung einen Fehler gemacht.
SL: Ich habe nicht bei Ihnen angerufen, damit Sie mich nun noch kritisieren!
I: Ja, bitte bleiben Sie dran! Ich sage das als Berater, den Sie gerade angerufen haben.
SL: O.K.: Erklären Sie mal genauer, was Sie meinen.
I: Gerne! Der Fehler ist: Sie haben entschieden, ohne alle Einwände vorher zu kennen, die in Ihrem System geäußert werden, nachdem Sie Ihren Plan veröffentlicht haben.
SL: Das klingt ein bisschen spitzfindig, aber Sie haben natürlich Recht. Was hätte ich tun sollen?
I: Um diese Frage zu beantworten, muss ich wissen, was Sie getan haben, um zu erfahren, was die Beteiligten in ihrem System für Erwartungen an ihren Plan haben.
SL: Ich habe mit allen möglichen Personen gesprochen. Vor allem mit den Kolleg*innen in meinem Schulleitungsteam. Dann noch mit dem Lehrerrat und – zugegebenermaßen recht zufällig- mit verschiedensten Personen, auf die ich gerade gestoßen bin.
I: Während des Lockdowns?
SL: Na ja, so gut es geht. Wir haben 80 Kolleg*innen, 1000 Schüler*innen, entsprechend viele Eltern, undundund. Wie soll ich da denn alle treffen?
I: Das halte ich für die entscheidende Frage, die Sie stellen. Und in dieser Frage sehe ich auch schon die Lösung für Ihr akutes Problem.
SL: Wie?
I: Diejenigen, die Sie nicht angetroffen haben, erleben sich als nicht in Ihre Überlegungen einbezogen, als nicht inkludiert. Aus dem Blickwinkel dieser Personen handeln sie nicht wie die Leiterin einer demokratisch verfassten Bildungseinrichtung, sondern wie eine feudale Herrscherin. Sie beteiligen schon viele Menschen, die Sie ansprechen. Aber die Entscheidung, mit wem Sie sprechen, geht von Ihnen aus, nicht aber von denen, die betroffen sind. Diejenigen, die nicht die Chance hatten, Gehör zu finden, erleben sich als ausgegrenzt. Das widerspricht der demokratischen Verfasstheit der Schule.
SL: Aber die demokratischen Prozeduren dauern doch viel zu lange. Soll ich denn eine LK, eine Schüler-VV, eine Schulpflegschaftssitzung und dann die Schulkonferenz einberufen, um unsere Planung absegnen zu lassen?
I: Die Mitwirkungsgremien sind nicht (nur) dazu da, ihre Planung abzusegnen. Die Partizipation sorgt dafür, dass die Planungen der Schule – im Urteil der Betroffenen – bestmöglich sind. Und dann erst segnen die Gremien die Entscheidung ab, in NRW die Schulkonferenz bzw. der Dringlichkeitsausschuss. Parallel prüft die Schulaufsicht Ihre Planungen.
SL: Das ist Theorie. Ich muss jetzt handeln und morgen die Planung veröffentlichen.
I: Nein, das ist Praxis. In der Krise geht es nicht formvollendet unter Einhaltung von Einladungsfristen. Das versteht jeder. Aber auch in der Krise handeln Sie klug, wenn Sie die demokratischen Prozesse so weit wie möglich nachbilden. Das zu tun ist Ihre Herausforderung als Chefin des Systems.
SL: Sie machen mich nachdenklich.
I: Gut! Um das zu tun, was ich meine, brauchen Sie drei Tage. Die haben Sie, auch in der Krise.
SL: Drei Tage? Sie meinen drei Monate!
I: Nein. Drei Tage. Idealtypisch geht das so: Sie verkünden heute In drei Tagen brauchen wir einen ablauffähigen Plan. Das Ziel ist, den Plan so zu machen, dass möglichst viele Menschen ihn für die beste mögliche Lösung halten, ihn kennen und ihn vertreten. Also, Leute, wir gehen wie folgt vor. Heute präsentieren wir allen die Planung, so wie sie heute aussieht. Wir richten einen Messenger ein, in dem jeder zum Plan aus seiner Sicht Bedenken und Einwände äußern kann. Morgen tagen ab 17 Uhr die LK, die SV und die Schulpflegschaft in je drei einstündigen Videokonferenzen auf freiwilliger Basis. Die Konferenzen sammeln die Bedenken und Einwände aus den Mitwirkungs-Teilgruppen. Übermorgen nachmittags trifft sich der Dringlichkeitsausschuss der Schulkonferenz, wertet die Rückmeldungen aus und erstellt eine Beschlussvorlage für die Schulkonferenz. Am dritten Tag trifft sich die Schulkonferenz im Videomeeting, berät die Vorlage und gibt dazu ein Votum ab. Alle Gremienentscheidungen haben nur beratenden, aber keine bindende Wirkung – denn dafür sind die formalen Bedingungen nicht gegeben. Abschließend treffen Sie mit umfänglicher Beteiligung der Betroffenen, aber schnell genug in der Krisensituation mit der Autorität der Schulleiterin die endgültige Entscheidung.
SL: Und wieso meinen Sie, dass das Vorgehen meine Probleme löst?
I: Aus genau dem Grund, wieso wir eine demokratische Verfasstheit haben: Erstens stellen Sie sicher, dass alle Beteiligten die – soweit in der Krise möglich – Chance hatten, gehört zu werden. Zweitens erfahren Sie alle Einwände, die Sie – wie wir eben erörtert haben – besser vor der Entscheidung schon gewusst hätten. Und drittens fußt Ihre Entscheidung, obwohl nicht formal abgesichert, auf der Position, die die Mitwirkungsgremien als optimal erkannt haben. Wenn also ein Shitstorm losbricht, haben Sie alle Beteiligten hinter sich und nicht gegen sich.
SL: Ich hätte vor drei Tagen mit Ihnen telefonieren sollen. Warum habe ich das nicht?
I: Vor einer Woche wäre noch besser gewesen. Denn auch die Technik der Online-Konferenzen muss erst aufgebaut werden. Das passiert zwar auch durch learning-by-doing, aber eine gute Schule zeichnet sich dadurch aus, dass sie solche Lernprozesse gestaltet. Aber, keine Sorge, es ist noch nicht zu spät. Selbst wenn Sie vielleicht in der ersten Woche mit Ihrem suboptimalen Plan arbeiten.
SL: Aha, interessant!
I: Sie machen es einfach wie Armin Laschet. Der hat schon ein paar Tage, bevor die Bundesregierung den zeitlichen Fahrplan der schrittweisen Schulöffnung festgelegt hat, seine Gang (Team M. Richter mit den Corona-Mails) vorpreschen und die Leitlinien für die Wiederkehr der Kinder ins Schulhaus verkünden lassen (am Donnerstag vor dem 1. Mai). Kleingedruckt stand in der Dienstanweisung unter Vorbehalt. Aber alle haben gewusst, was etwa kommen wird, und sofort mit der Arbeit begonnen.
SL: Ich habe mich über das Vorgehen von Herrn Laschet sehr geärgert. Er macht mir das Leben schwer.
I: Tatsächlich hat er Ihnen ein paar Tage zum Nachdenken und Gestalten geschenkt. Sie sind doch Rheinländerin und wissen, wie man das im Rheinland so macht. Am Abend des Tages sagte Herr Laschet in der Presse: Hallo, kein Stress. Das war doch vorläufig. Also sagen Sie jetzt: Hallo, kein Stress, das war doch nur vorläufig. Der Plan ist doch nur vorläufig. Wir erproben ihn in der Praxis! Gleichzeitig starten Sie die Prozedur wie beschrieben. Sie sagen einfach: Das machen wir so, damit auch wirklich jede*r sich angesprochen fühlt und von der Möglichkeit Gebrauch macht sich einzubringen.
SL: Aha! Was kostet Ihre Beratung?
I: Erst mal nichts. Wir haben ja keinen Kontrakt. Wenn Sie Unterstützung bei der Umsetzung brauchen, sprechen Sie uns gerne an. Und wenn der Rat gut war, empfehlen Sie uns weiter!